"Klassikrebell" Teodor Currentzis elektrisiert am Pult.

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Saisoneröffnung im Wiener Konzerthaus: Intendant Matthias Naske wird mit freundlichem Applaus empfangen und freut sich über das "beste Publikum der Stadt", in dem er auch den Bundespräsidenten begrüßen kann. Die Stimmung erinnert eher an Festspiele als an ein normales Konzertereignis, am Ende des Abends wird sie von tosendem Jubel geprägt sein.

Es ist schon ungewöhnlich genug, in diesem Rahmen Oper in halbszenischer Form zu zeigen. Vollends außergewöhnlich aber der musikalische Zugang: Dirigent Teodor Currentzis, der als "Klassikrebell" gilt und für Aufführungen aller drei Mozart-Da-Ponte-Opern gastiert, sorgt bei Le nozze di Figaro mit seinem MusicAeterna Orchestra für Dramatik ab der ersten Sekunde.

Risikofreudig und rasant

Alle drei Opern sind bereits vor Jahren auf CD erschienen, doch wirkt die Aufführung radikal frisch und bereits die Ouvertüre geradezu halsbrecherisch risikofreudig und rasant. Ohne Rücksicht auf Verluste wird jeder Gedanke an perlend-glatte Perfektion von vornherein einer elektrisierenden Wirkung geopfert, so spielfreudig und packend agiert das Orchester einschließlich einer sehr farbigen und vor Ideenreichtum sprühenden Continuo-Combo den ganzen Abend lang. Unausgesetzt animiert und angestachelt wird es von einem Dirigenten, der die gesamte Bühne zu beherrschen scheint und sein Pult immer dann wie selbstvergessen verlässt, wenn er Interaktionsbedarf rund um sich verspürt, seinen Impulsen nachgibt und sich dabei auf sofortige Reaktionen der Instrumentalisten und Sänger verlassen kann. Das Ergebnis ist unmittelbarer, unvergleichlich intensiver und von einer überschießenden Emotionalität, als in den meisten Opernhäusern auch nur erträumt werden kann.

Sogar das Feuerwerk kann man hören

Und dies, obwohl – oder weil – die Inszenierung von Nina Vorobyova auf Kulissen und fast ganz auf Requisiten verzichtet. Dass die seelischen Nöte, Hoffnungen und Freuden ungefiltert zutage treten – beginnend in den ersten Minuten beim Duett zwischen Figaro und Susanna, in dem Hochzeitsvorfreude von Eifersuchtsabgründen zertrümmert wird -, verdankt sich einer hochagilen Sängerschar.

An deren Spitze stehen der mit einem rekordverdächtigen Prestissimo-Parlando agierende Alex Esposito (Figaro) und Olga Kulchynska als keck-hinterlistige Susanna. Wenn im Zweifel dabei stimmlich die Flucht nach vorn gewählt wird, intensiviert das noch eher die Dringlichkeit, auch wenn manche darüber vielleicht die Nase rümpfen würden.

Dasselbe gilt für den kreativen Zugriff, den der Dirigent an den Tag legt. Unbekümmert hinsichtlich der Usancen eines puristischen "Werktreue"-Begriffs, wird einmal eine Drehleier dazugefügt und wirkt vieles, was nicht in den Noten steht wie Verzierungen und kleine Kadenzen, stilistisch in manchem sehr frei. Zugleich bringt Currentzis Details der Partitur wie Bläsersignale, Nebenstimmen und dynamische Kontraste tiefgreifend zu Ohren. Sogar das Feuerwerk, von dem im Libretto die Rede ist, kann man im Schlusschor hören. Fantastico! (Daniel Ender, 7.9.2019)