Selektiver Mutismus wird häufig falsch als Schüchternheit diagnostiziert. Die genetisch bedingte Angststörung lässt Kinder in Schule und Kindergarten verstummen.

Foto: Getty Images/iStockphoto

Der erste Schul- oder Kindergartentag ist für die gesamte Familie aufregend. Manche Kinder leiden aber regelrecht unter dieser neuen, für sie fremden Situation. Auf Fragen der Kindergärtnerin, der Lehrerin oder anderer Kinder folgt nur eines: beharrliches Schweigen. Der Kopf schaut zu Boden, die Haare hängen ins Gesicht, die Schultern werden hochgezogen, der Körper erstarrt in dieser Position. Schätzungen zufolge haben etwa sieben von 1000 Kindern diese Angststörung, im Fachjargon selektiver Mutismus genannt. "Tatsächlich dürften viel mehr betroffen sein, weil das stille Leiden oft übersehen oder falsch diagnostiziert wird", sagt die Wiener Sonderpädagogin und Psychotherapeutin Gabriele Biegler-Vitek.

Häufig wird die Sprechblockade auch deshalb nicht oder erst spät entdeckt, weil sich die Kinder zu Hause vollkommen normal verhalten. Mit Eltern, Geschwistern oder anderen engen Bezugspersonen reden sie besonders viel und zwanglos, als müsste die Sprachlosigkeit in der fremden Außenwelt kompensiert werden. Doch wenn Menschen zu Besuch kommen, die das Kind nicht oder kaum kennt, verstummt es schlagartig, zieht sich zurück und verkriecht sich im eigenen Zimmer. Häufig wird dieses Verhalten falsch interpretiert. "Viele denken, dass das Kind schüchtern, trotzig, unfreundlich oder einfach schlecht erzogen ist. Eltern suchen dann oft die Schuld bei sich selbst. Sie sind aber keinesfalls dafür verantwortlich, dass das Kind schweigt", sagt Carina Kittelberger, die in Wien eine logopädische Praxis leitet.

Unmögliche Fragen

Ein weiterer Trugschluss ist, dass ein Trauma hinter dem Schweigen steckt. "In 99,9 Prozent der Fälle gibt es kein traumatisches Erlebnis", betont Biegler-Vitek. Als wissenschaftlich gesichert gilt: Selektiver Mutismus ist fast immer genetisch bedingt. In etwa drei von vier Fällen ist zumindest auch ein Elternteil introvertiert und gehemmt. "Aktuelle Forschungen haben gezeigt, dass das Angstzentrum im Gehirn, die sogenannte Amygdala, bei selektiv mutistischen Kindern vergrößert ist", erklärt die Psychotherapeutin. Dadurch reagiert das Angstzentrum viel heftiger, als es zum Selbstschutz notwendig wäre.

Das Kind hat das Gefühl, in einer Angstsituation zu sein, die tatsächlich gar nicht existiert. Es gibt zwar keinen logischen Grund für die empfundene Furcht, dennoch wird die Situation als bedrohlich wahrgenommen. Das heißt auch, dass Betroffene nicht bewusst darüber entscheiden, ob sie reden oder schweigen, sondern die Situation verursacht die Sprechblockade. So werden einfache, alltägliche Handlungen, wie ein Eis zu bestellen und nach der Uhrzeit oder dem Weg zu fragen, zu einer unbewältigbaren Aufgabe.

Im Kindergarten tolerieren Pädagogen das Schweigen noch häufig und geben sich mit Kopfnicken oder -schütteln zufrieden. Außerdem übernehmen dort meist andere Kinder die Rolle als stellvertretendes Sprachrohr. "In der Schule ist das nicht mehr so einfach, dort wird Leistung erwartet", betont Psychotherapeutin Gabriele Biegler-Vitek. "Obwohl es auch Kinder gibt, die es bis zur Matura schaffen, ohne je ein Wort in der Schule gesprochen zu haben", berichtet Carina Kittelberger aus der Praxis.

Mit dem Mund arbeiten

Grundsätzlich gilt: Je früher mit der Therapie begonnen wird, desto besser lässt sich die Angst unter Kontrolle bringen. Gute Ergebnisse bringen interdisziplinäre Ansätze, etwa aus Logopädie, Sonderpädagogik und Psychotherapie. Schließlich geht es nicht nur darum, das Kind zum Sprechen zu bringen, ebenso wichtig ist es, an der Selbstsicherheit zu arbeiten. "Von der Persönlichkeit her sind es meist Kinder, die zum Perfektionismus neigen. Sie fühlen sich unwohl, wenn sie im Mittelpunkt stehen, und haben wahnsinnige Angst davor, etwas falsch zu machen", sagt Biegler-Vitek.

In kleinen Schritten wird versucht, das Schweigen zu überwinden. "Anfänglich kann das auch ein Pusten sein –, einmal heißt Ja, zweimal Nein. Wichtig ist, dass zum Kommunizieren der Mund und nicht der Finger verwendet wird", erklärt Biegler-Vitek. Dann folgen Geräusche und Laute, anschließend arbeitet sich das Kind zum ersten Wort vor, häufig noch flüsternd.

Schließlich folgen ganze Sätze, oft über die Kommunikation mit einer Handpuppe. Später werden in Gruppen soziale Situationen geübt und kleine Hausaufgaben vergeben: etwa selbst ein Getränk zu bestellen oder ein Eis zu kaufen. Das Prinzip dahinter: Das Schweigen soll durch neue Verhaltensmuster wieder verlernt werden. Am besten gelingt das in jungen Jahren, für Jugendliche ist es deutlich schwieriger. "Deshalb ist es so wichtig, dass aus einem schweigenden Kind, kein schweigender Teenager wird", resümiert Kittelberger. (Günther Brandstetter, 7.9.2019)