Plötzlich ist alles anders. Als Peter Lindbergh, legendärer Fotograf der Supermodel-Ära, vor ein paar Monaten zum Gespräch bittet, ahnt niemand, dass es eines der letzten seines Lebens sein wird. Mit dunklem Oberteil, heller Hose, einer kleinen runden Brille stand er da. Ein fülliger Körper. Den Raum füllte er aber vor allem mit seiner Persönlichkeit aus. Nun klafft ein Loch. Für immer. Am Dienstag ist Lindbergh im Alter von 74 Jahren verstorben. Ein Interview, das plötzlich wie ein Vermächtnis klingt.

Peter Lindberghs Bilder kennt man von zahlreichen Modestrecken und Ausstellungen. Vergangenen Sommer kam ein Film über sein Schaffen ins Kino.
Foto: APA/AFP/DPA/Tobias Kleinschmidt

STANDARD: Fotograf Helmut Newton sagte einmal, er habe seine Models wie ein Bauer seine Kartoffelsäcke angesehen. Wie ist Ihre Beziehung zu den Frauen vor der Kamera?

Lindbergh: Ich gucke sie wie ein wunderschönes komplexes Gebilde an. Ich habe mal für den Pirelli-Kalender ältere Schauspielerinnen fotografiert, Robin Wright, Julianne Moore. 47.000 Bilder für 40 Fotos, so war das Verhältnis. Keine durfte sich hinter einer Rolle verstecken, kaum Make-up benutzen. Für die Frauen war das viel schwieriger, als sich auszuziehen. Nicole Kidman sagte mal zu mir: Ich kenne dich so gut, ich würde das nie mit jemand anderem machen.

STANDARD: Fühlen Sie sich als Therapeut?

Lindbergh: Eher wie ein Lover, der keine bösen Absichten hat.

STANDARD: Sie sagen über Werbefotografie: "Diese Sexy-Kultur ist eine Katastrophe."

Lindbergh: Weil die kommerzielle Welt die Schönheit kontrolliert. Wenn du 30 bist, sollst du aufpassen, dass du im Gesicht keine Dingerchen kriegst.

STANDARD: Gerade zeichnen Sie eine unsichtbare Falte auf Ihrer Wange.

Lindbergh: Eine Unverschämtheit, so etwas den Leuten einzureden. "Achtung, da gibt es diese Creme, hochwissenschaftlich zusammengesetzt, kostet nur 350 Euro, wenn du die abends auflegst, strafft sich alles ein bisschen." Das Irre : Die Leute glauben das.

STANDARD: Bei Ihnen sehen wir Frauen unterschiedlichen Alters vor der Kamera, teilweise sind diese nackt. Müssen Ihre Models exhibitionistisch sein?

Lindbergh: Im Gegenteil. Ich finde es spannender, wenn sie sich überwinden müssen, ihre Kleidung auszuziehen. Mut ist interessanter als Nacktheit. Ich weiß noch, das erste Aktbild habe ich mit dem Model Lynne Koester Mitte der 80er-Jahre gemacht. Ich habe ihr gesagt, wenn du so weit bist, irgendwann, sag Bescheid. Sie hatte sich noch nie nackt fotografieren lassen, dann stellte sie sich hüllenlos vor die Kamera – das hatte eine unheimliche Kraft.

STANDARD: Wie kreiert man einen Schutzraum, der für Aktfotografie wichtig ist?

Lindbergh: Man redet lange miteinander. Danach stimmen die meisten zu. Die Mädchen laufen für Magazine dauernd in Badeanzügen herum. Die suchen eine Herausforderung. Das beobachte ich auch, wenn ich für Wohltätigkeitsorganisationen meine Dienste anbiete. Auf einer Auktion ersteigert die Höchstbietende ein Porträt von mir. Wenn sie ins Studio kommt, frage ich sie, ob sie sich ausziehen will. Denn ich habe festgestellt, dass es das ist, was sie eigentlich möchten. Dieses Abenteuer, von sich ein Nacktfoto zu haben. Nicht, weil der Lindbergh so ein sexy Typ ist. Der Akt, das zu machen, das ist für sie der Hammer.

STANDARD: Seit Mitte der 70er-Jahre sind Sie als Modefotograf tätig. Wie hat sich in all den Jahren das Verhältnis zwischen Fotografen und Models verändert?

Lindbergh: Kaum, die Beziehung mit den Auftraggebern aber schon. Der Verlag Condé Nast schickt für Shootings jetzt irgendwelche Verhaltensregeln mit. "Packt niemanden an!" Die wollen das von meinem Agenten unterschrieben haben. Ich sage ihm, du kannst das machen, aber nicht für mich. Das wird doch sofort eine andere Art zu fotografieren, wenn ich mich wie ein regulierter Typ am Set fühle und 30 Zentimeter vor den Models stehen bleiben muss, bevor ich sie etwas fragen darf. Furchtbar.

STANDARD: Sie rücken ihnen auf die Pelle?

Lindbergh: Ich bewege mich kein Stück nach vorn, wenn es keine Übereinkunft gibt. Ich habe höchsten Respekt vor Frauen, ich würde nie für einen Job zehn Zentimeter zu nahe am Model zu fotografieren.

STANDARD: Ohne erotische Spannung ist ein gutes Bild fast nicht möglich, haben Sie einmal behauptet. Tun Sie sich deshalb schwer, Männer zu fotografieren?

Lindbergh: Ich fotografiere viele Männer, aber ich zeige die Bilder nicht, damit nicht die ganzen Männermagazine anklopfen.

STANDARD: Ihr Kollege Juergen Teller findet: Deine Freiheit stirbt in der Sekunde, in der du einen kommerziellen Job annimmst.

Lindbergh: Das ist Blödsinn. Gerade für Juergen, er schert sich doch einen Scheiß drum – deshalb ist er ja auch so toll.

STANDARD: Wie Terry Richardson bricht er die Grenze zwischen Künstler und Objekt auf, taucht selbst mit im Bild auf, gern nackt. Finden Sie das spannend?

Lindbergh: Teilweise ist das Kunst, wenn Richardson eine Grenze überschreitet und mit seinem Ding herumläuft.

STANDARD: Mit Ding meinen Sie Penis.

Lindbergh: Egal, wie man das findet, er bricht ein Tabu, das ist grundsätzlich toll. Ich habe mir vor einiger Zeit eine Ausstellung von ihm angesehen, da hingen nur richtige Klischeebilder aus dem amerikanischen Westen. Langweilig.

STANDARD: Sie wuchsen nach dem Krieg im Ruhrgebiet auf. Ihre Mutter wollte Opernsängerin werden, sie durfte nicht. Hätte sie Fotografie als Kunstform anerkannt?

Lindbergh: Sie mochte jeden künstlerischen Ausdruck. Obwohl sie meine erste Berufswahl, Schaufensterdekorateur, wenig begeistert hat. Ich kannte keinen künstlerisch höherwertigen Beruf in Duisburg. Das war das Einzige, was ein bisschen verrückt war neben den Optionen Bergarbeiter und Supermarktkassierer. Als ich meiner Mutter das eröffnete, war sie besorgt. Mach das nicht, werde Fliesenleger! Guck mal raus, am Ende der Straße, diese Schmitzkens, Vater Fliesenleger, die haben ihr ganzes Haus weiß gekachelt, die haben es geschafft.

STANDARD: Sie sollten nicht kreativ sein?

Lindbergh: Sie wollte einen soliden Beruf für mich. Ich war eine Katastrophe in der Schule. Die interessierte mich nicht. Mein jüngster Sohn Joseph ist 16 Jahre alt, alle hacken auf ihm herum, dass er mehr tun soll. Mensch, der hat andere Sachen im Kopf. Er hat eine Freundin, seine Kumpels, der lebt jetzt auf und will nicht irgendwelche Elternträume verwirklichen. Er hat auch angefangen zu fotografieren, sich ein kleines Instagram zusammengebastelt, irre Sachen, kaum Leute drauf.

STANDARD: Und in Farbe. Als Abgrenzung vom Vater?

Lindbergh: Denke ich mal. Irgendwann hat mal jemand zu ihm gesagt, das muss ja schwer sein, als Fotograf der Sohn von Peter Lindbergh zu sein. Da machte er nur so: "Pfff ..." Nach dem Motto, egal.

STANDARD: Leidet das Image der Fotografie unter Photoshop und Instagram?

Lindbergh: Gar nicht. Jetzt rollt eine neue Generation an, keine großen Künstler, eher Partyfotografen, die überall herumhüpfen. Das Establishment merkt jetzt, fuck, die nehmen uns die ganzen Jobs weg.

STANDARD: Ihnen auch, Herr Lindbergh!

Lindbergh: Sicher, da gibt es diese junge Frau, die macht jetzt Dior. Ich habe sie bei einem Abendessen kennengelernt, im Grunde eine junge Studentin, dieses Leichte in ihren Bildern, toll. Kürzlich habe ich bei allen neuen Magazinkampagnen geguckt, wer die gemacht hat. Ich kannte zwei von 50 Namen. Das ist eine ganz neue Art. Man braucht keine teuren Meisterwerke mehr.

STANDARD: Keine groß inszenierten Fotos, die wie elaborierte Filmsets aussehen.

Lindbergh: Früher wurden Unmengen Geld ausgegeben, um Werbung zu schießen. Sagen wir, es gab für eine Kampagne fünf Millionen Euro Budget, dann hat man eineinhalb Millionen für die Fotos rausgeballert. Die jungen Leute heutzutage machen das für 500.000 Euro, und dabei wird alles schon gefilmt für ein Making-of.

STANDARD: Das heißt, Ihre Preise sinken.

Lindbergh: Endlich! Lasst uns nicht mehr den Jobs für Geld nachlaufen. Ich mache mir keine Sorgen, kann mich dadurch auf andere Sachen konzentrieren. Ich möchte nicht wie Richard Avedon mit der Kamera in der Hand sterben.

(Ulf Lippitz, Agenda, 7.9.2019)