Noch ist der Ausgang des "Brexit-Kriegs" völlig offen. Diese martialische Bezeichnung scheint aber allein schon deshalb angemessen, weil Großbritanniens neuer Premier Boris Johnson so über den von ihm gewünschten Austritt Großbritanniens aus der EU redet – und weil sein engster Berater, Dominic Cummings, so denkt.

Dominic Cummings (re.), engster Berater von Premier Boris Johnson (li.), hinter den Gittern von 10, Downing Street: Für die einen ein "unflätiger Trottel", für einen anderen ein "Karrierepsychopath".
Foto: AFP/DANIEL LEAL-OLIVAS

"Ohne Wenn und Aber" will Johnson den Brexit durchsetzen. Notfalls müsse man auch chaotisch ohne Vertrag (No-Deal-Brexit) aus der EU ausscheiden; die Chance dafür betrug vor zwei Monaten "höchstens eins zu einer Million", diese Woche aber schon 50 zu 50. Immer deutlicher wird: Johnson will den Crash, die Verantwortung dafür schiebt er den Europäern zu. Seine Entschlossenheit dokumentierte Johnson durch den Amtsantritt einer Regierung, deren Mitglieder sich zur Möglichkeit des Chaos-Brexits bekennen mussten.

Umstrittene Personalie

Den stärksten Eindruck aber hinterließ eine Personalie außerhalb des Kabinetts: Johnson, einst Vormann der Brexit-Kampagne "Vote Leave", machte deren Chefstrategen Dominic Cummings zu seinem engsten Berater. Deutlicher hätte die Kriegserklärung an den linksliberalen Tory-Flügel und das kleine Häuflein von EU-Freunden in der konservativen Parlamentsfraktion nicht ausfallen können.

Wie zu Zeiten des Renaissance-Königs Heinrich VIII. (1509-47) dessen Chefberater Kardinal Thomas Wolsey und Thomas Cromwells beäugt das Londoner Establishment auch im 21. Jahrhundert mit Argusaugen das Umfeld des Machthabers. So genoss Alistair Campbell, der Spindoktor von Labour-Premierminister Tony Blair (1997-2007), das zweifelhafte Privileg, einen größeren Bekanntheitsgrad (und gewiss auch Einfluss) zu haben als die meisten Kabinettsmitglieder.

Bei Cummings liegt der Fall ähnlich, wird aber durch zwei Faktoren verstärkt: Zum einen ist der schmal gewachsene Historiker nicht einmal Mitglied der konservativen Partei. Er selbst hält ja Parteien für obsolet. Zum anderen eilt ihm der Ruf als "unflätiger Trottel", so der Tory-Hinterbänkler Roger Gale, und sogar als "Karriere-Psychopath" voraus. Letzterer Kraftausdruck stammt vom früheren Premier David Cameron, in dessen Regierungszeit (2010- 2016) Cummings als Büroleiter des damaligen Bildungsministers Michael Gove irrlichterte.

Ein Fernsehfilm über den Erfolg der EU-Gegner, in dem Cummings detailgetreu von Benedict Cumberbatch (Sherlock Holmes) dargestellt wird, trägt den Titel Brexit – the uncivil war, ein Wortspiel mit dem englischen Ausdruck für Bürgerkrieg (civil war). Tatsächlich betrachtet Cummings seine politischen Kampagnen als Vernichtungsfeldzüge und zitiert gern den chinesischen General Sun Tzu (544-496 vor Christus).

Dessen Schriften handeln häufig von psychologischer Kriegsführung, und so lassen sich auch viele der Johnson'schen Initiativen einordnen. Die Zwangspause fürs Parlament aber, deren Legalität der Londoner High Court am Freitag bestätigte, setzte politische Widerstandskräfte frei, mit denen Johnson und Cummings offenbar nicht gerechnet hatten. Jedenfalls probten 21 altgediente Tories den Aufstand und erzwangen mit einer überparteilichen Anti-Chaos-Allianz ein neues Brexit-Gesetz. Sollte es am Montag rechtskräftig werden, müsste der Premier dem Parlament bis 19. Oktober einen Austrittsvertrag vorlegen – oder bei der EU um Aufschub bis Ende Jänner bitten.

Auch die eigene Familie stellte sich gegen den neuen Premier Johnson: Er verlasse seinen Posten als Staatssekretär im Kabinettsrang und werde nicht erneut fürs Unterhaus antreten, erklärte Joseph Johnson am Donnerstag. Der jüngere Bruder begründete seinen Schritt mit dem Gegensatz zwischen "Loyalität zur Familie und dem nationalen Interesse". Anders gesagt: Der Premierminister handelt dem Urteil seines Bruders zufolge gegen die vitalen Interessen Großbritanniens.

Populistische Strategie

Premier Johnson setzt trotz des breiten Widerstands weiterhin auf Neuwahlen. In London gibt es viele, die darin Cummings' Handschrift erkennen. Mit dem Populisten-Slogan "Das Volk gegen das Parlament" wolle sich Johnson als Anführer der zur Brexit-Party umgewandelten Tories an die Wählerschaft wenden und den Chaos-Brexit herbeiführen. Dass dieser Plan am Mittwoch vorläufig scheiterte, muss Cummings verbittert haben. Jedenfalls wollte der angetrunkene 47-Jährige spätabends im Parlament Labour-Chef Jeremy Corbyn zur Rede stellen, was dessen Begleiter verhinderten.

Da der Premier ja "lieber tot im Graben" läge, als die EU um Aufschub zu bitten, wäre ein Ausweg ein Misstrauensvotum mit anschließender Wahl eines Übergangspremiers. Dessen oder deren Aufgabe bestünde ausschließlich aus dem Bittgang nach Brüssel und der Vorbereitung der Neuwahl. Am elegantesten wäre es wohl, einen klugen, erfahrenen Konservativen zu bitten, der vorab mitgeteilt hat, er wolle zur Wiederwahl nicht antreten. Hat da jemand Joseph Johnson gesagt? (Sebastian Borger, Agenda, 7.9.2019)