Ein paar Klicks von der Seite, da springt die Frau mit den türkisen Fingernägeln von ihrem Sitz auf. Was er sich erlaube, blafft sie den Mann mit der Kamera jenseits des Mittelgangs an. Passagiere schrecken aus dem Dämmerschlaf, Hälse recken sich über die Sitzreihen. In Zeiten von Daten-Hacks liegen die Nerven blank – selbst in einem Bummelzug, der an einem frühen Samstagmorgen durch die Kukuruzfelder des Innviertels rattert.

Der Wickel löst sich rascher auf als im Wahlkampf üblich. Als sich der vermeintliche Spion als Fotograf eines deutschen Magazins entpuppt, wirft sich Manuela, wie sich die Dame vorstellt, bereitwillig in Pose. Sie platziert eine türkise Sonnenbrille über der Stirn, streift ihren türkisen Mantel glatt, hält ein türkises Knäuel vor die Linse. 70 Freundschaftsbänder hat sie geknüpft, alle für den Wahlkampf vom Sebastian.

Blaue Hochburg in türkisem Beschlag: Üblicherweise hält in Ried die FPÖ politische Hochämter ab.
Foto: Christian Fischer

Fan und Fotograf haben dasselbe Ziel. Sebastian Kurz hat sich angekündigt, das Volksfest am Rande der Rieder Messe um eine Attraktion zu bereichern – und den ehemaligen Koalitionspartner zu ärgern. In der oberösterreichischen Kleinstadt hält üblicherweise die FPÖ politische Hochämter ab. Nun sollen Ibiza-Flüchtlinge zur ÖVP gelotst werden.

Goretex über Krachlederner

Der Weg übers Festgelände offenbart den Charme eines Praterbesuchs im November. Goretexjacke über Krachlederner ist die Adjustierung der Stunde. Einsam kurvt ein Wagerl der Crazy Mouse durch den Schnürlregen, die Blaskapelle von Zell an der Pram quetscht sich unters Vordach des Ringelspiels. Doch im auf Älplerisch gestylten Bierzelt klacken schon um halb zehn die ersten Krüge aneinander, Aktivisten in türkisen Parkas schwirren durch die Reihen. Jedes Detail muss sitzen. Das Bild der Videowall wackelt? Um Himmels willen! Rasch sind Aufpasser zur Kamera dirigiert, sodass keiner mehr vorbeitrampeln kann.

Vorn auf der Bühne erhöht der von Ö3 zur ÖVP gewechselte Moderator Peter L. Eppinger die Schlagzahl. Die Bläsercombo pustet sich die Seele aus dem Leib, Eppinger schreit: "Haben wir ein K? Haben wir ein U?" Flugs sind Buchstaben in Supersize herangeschafft. "Jetzt sage ich den Vornamen und ihr den Nachnamen", gebietet der Einpeitscher: "Sebastian! Kurz!"

"Scheißts auf die Umfragen"

Den gibt es vorerst aber nur auf der Videowall zu sehen, wandernd, plaudernd, Kinder tätschelnd. Dafür gehört die Bühne nun dem "Gust", als Klubchef im Nationalrat unter dem Namen August Wöginger bekannt. "Scheißts auf die Umfragen!", ruft der von kariertem Hemd und Trachtengilet als "Hiesiger" ausgewiesene Lokalmatador. Um die Wahl "gscheit" zu gewinnen, müsse sich jeder Anhänger im Saal ebenso reinhauen, mahnt Wöginger, das beginne daheim: "Es kann ja nicht sein, dass unsere Kinder nach Wean fahren und als Grüne zurückkommen. Wer in unserem Hause schlaft und isst, hat auch die Volkspartei zu wählen."

Einpeitschen im Festzelt: "Es kann ja nicht sein, dass unsere Kinder nach Wean fahren und als Grüne zurückkommen."
Foto: Christian Fischer

Das Publikum johlt, die Beobachter staunen. "So etwas habe ich noch nicht erlebt", sagt ein aus Berlin angereister Reporter. "Das sieht tatsächlich noch nach so etwas wie einer Volkspartei aus. Bei der CDU ist alles viel schlechter gelaunt."

Stimmungswechsel. Ein düsterer Beat setzt ein, über den Riesenbildschirm spaziert ein sinistres Paar. SPÖ-Bundesgeschäftsführer Thomas Drozda und FPÖ-Klubchef Herbert Kickl sind es, die da scheinbar geheim die Köpfe zusammenstecken, das Standbild fängt sie für eine halbe Minute ein. "Allianz aus Zorn, Wut und Neid" nennt Kurz' Wahlkampfleiter Karl Nehammer das Duo, er lässt seine Sätze in dramatischen Pausen sickern: "Ein Bild sagt mehr als tausend Worte." Genau jetzt, in diesem Moment, der eigentlich ein Tag der Freude sein sollte, sagt Nehammer, müssten Ermittler den kriminellen Datenklauangriffen auf die ÖVP nachspüren. Arg, wie weit es gekommen ist.

Doch dann jubilieren fanfarenartige Klänge und künden – halleluja! – von seiner Ankunft. Sebastian Kurz bahnt sich, nun leibhaftig, händeschüttelnd den Weg auf die Bühne. Seine Rede fällt kompakt, aber bilderreich aus. Er erzählt vom Unwesen der Borkenkäfer in den Wäldern, vom von Billigimporten bedrohten heimischen Fleisch, von Frauen, die ein Leben lang ehrenamtlich für Essen auf Rädern arbeiten. Zwei Witzchen, zwei konkrete Forderungen (Pflegeversicherung und CO2-Zölle), dann ist es auch schon getan.

Kurz im vollen Bierzelt: Früher musste die ÖVP mühsam Anhänger zusammenkratzen.
Foto: Christian Fischer

Weit weg von überschwänglich präsentiert sich Kurz der aufgekratzten Menge; beim abschließenden Absingen der Bundeshymne wirkt der dezent intonierende Ex-Kanzler neben den inbrünstig schmetternden Lokalgrößen fast schon schüchtern. Dafür zeigt er umso mehr Einsatz, als eine rasant wachsende Schlange um Erinnerungsfotos ansteht.

Hundert Fotos ohne Hänger

Das Shooting ist durchgetaktet wie ein Formel-1-Boxenstopp, vier Sekunden pro Bild. "Foto oder Selfie?", klärt ein Helfer ab, ein zweiter macht die Aufnahme, ein dritter geleitet die Bewunderer zügig von der Bühne. Kurz lässt sich keinen Augenblick lang hängen. Unter hundert Fotos mit seinen Fans wird sich schwerlich eines finden lassen, auf dem der Wahlfavorit nicht freundlich lächelt.

Dies tut Kurz auch, als er nach einer Stunde und acht Minuten im Zelt zum Abschied winkt und zum Bus entfleucht. Er tritt an diesem Tag noch in Graz und Villach an, klappert in drei Tagen – so viel Superlativ muss sein – alle Bundesländer ab.

Minutiös durchgetaktete Show, in drei Bundesländern pro Tag: Eine Armada an Helfern schließt jede Unwägbarkeit aus.
Foto: Christian Fischer

Zurück bleiben die ÖVPler aus Oberösterreich, so mancher wirkt ehrlich erstaunt. Wie habe man früher Kontingente zusammenkratzen müssen, um eine Bude vollzukriegen, heißt es bei Schnitzel und Brathendl: Bei Kurz kämen sie von allein.

Wie diesem das gelingt? Weil er jung und dynamisch sei, die Dinge anpacke, "unsere" Sprache spreche: Wer sich in der Anhängerschaft umhört, kann genauso gut die allgegenwärtigen Slogans lesen. Ein altgedienter Funktionär bietet aber noch eine vertiefende Beobachtung an. Wenn Kurz mit den Leut rede, gebe er ihnen das Gefühl, für diese eine Minute mit dem Kopf nur bei ihnen zu sein und richtig zuzuhören: "Ob er es auch tut, ist eine andere Frage." (Gerald John, 8.9.2019)