Der Brexit bereitet Boris Johnson – und ganz Europa – weiterhin Kopfzerbrechen.

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Gut sieben Wochen vor dem angestrebten EU-Austrittstermin Ende Oktober hat die britische Regierung das Unterhaus in der Nacht auf Dienstag für fünf Wochen in den Zwangsurlaub geschickt. Während der Zeremonie im Unterhaus hielten oppositionelle Abgeordnete Schilder mit der Aufschrift "Zum Schweigen gebracht" hoch und riefen "Schämt euch!". Auch der Parlamentspräsident John Bercow übte Kritik an der von Regierungschef Boris Johnson angeordnete Sitzungspause bis zum 14. Oktober. Es handle sich um die längste Pause seit Jahrzehnten. Dies sei kein "normaler" Vorgang, betonte Bercow.

Was die Parlamentarier vom Vorgehen des Premierministers halten, dokumentierten sie zuvor: Sie haben haben in der Nacht auf Dienstag die zum zweiten Mal binnen weniger Tage geäußerten Forderung Boris Johnsons nach vorgezogener Neuwahl abgelehnt. 293 stimmten für und 46 gegen den Antrag des britischen Premiers, eine Zweidrittelmehrheit von 434 Stimmen wäre notwendig gewesen. Erst wenn der angedrohte Chaos-Brexit vom Tisch sei, "werden wir der Wahl zustimmen", sagte etwa Ian Blackford von der schottischen SNP.

Die sechste Niederlage der Regierung in Folge demonstriert den anhaltenden Zorn der Opposition sowie der neuerdings "unabhängigen", sprich: aus der Partei gedrängten gemäßigten Tories über die Zwangspause. Der Premierminister hatte diese mit der Vorbereitung auf eine neue Regierungserklärung Mitte Oktober sowie den ohnehin geplanten Ferien während der Parteitage von Liberaldemokraten, Labour und Konservativen begründet. Eine überparteiliche Allianz unter Führung des Liberalkonservativen Dominic Grieve vermutet hingegen, dass Johnson in Wahrheit das Parlament von der Brexit-Debatte ausschließen wollte. Sie forderte die Regierung via Parlamentsantrag zur Herausgabe von Daten mehrerer enger Berater Boris Johnsons auf, darunter Emails und WhatsApp-Nachrichten von dessen Chefberater Dominic Cummings. Ein Sprecher der Downing Street nannte das Anliegen "unverhältnismäßig und beispiellos".

Johnson will nicht um Aufschub ansuchen

Zuvor hatte Queen Elizabeth II dem sogenannten Benn-Gesetz ihre Zustimmung erteilt. Damit muss Johnson die EU um weiteren Brexit-Aufschub bis 31. Jänner bitten, falls er dem Unterhaus nicht bis 19. Oktober eine neue Lösung vorgelegt hat. Johnson kündigte am Montag allerdings erneut an, nicht in Brüssel um Aufschub ansuchen zu wollen.

Die Debatten im Unterhaus verzögerten sich zusätzlich, nachdem der Parlamentspräsident seinen Abschied angekündigt hatte. Er werde spätestens am 31. Oktober aus seinem Amt scheiden, teilte John Bercow mit. Während die Opposition seiner Erklärung applaudierte, hörten die Regierungsbänke ihm mit eisigem Schweigen zu. Bercow ist bei seinen früheren Tory-Parteifreunden verhasst, weil er auf die Rechte des Parlaments pocht und vor allem Tories häufig rüde zurechtweist.

Keine Verharmlosung des No Deal

Am Vormittag hatte Johnson dem irischen Premier Leo Varadkar einen Besuch abgestattet. Dabei traten die Gegensätze zwischen London und Dublin klar zutage. Varadkar warnte seinen Besucher vor den Gefahren eines No Deal, den Brexiteers in Großbritannien gern als "sauberen" Austritt verharmlosen. Mit dem Austritt sei die Sache nicht erledigt; vielmehr müssten beide Parteien nach einem No Deal erst recht an den Verhandlungstisch in Brüssel zurückkehren: "Und dann sind wieder die Tagesordnungspunkte die Rechte von EU-Bürgern, die Klärung der Finanzen und die innerirische Grenze." Diese drei Probleme sollte das Paket aus Austrittsvertrag und politischer Erklärung eigentlich lösen, das vom Unterhaus dreimal abgelehnt wurde.

Johnson verwies auf die enge wirtschaftliche und politische Zusammenarbeit und gegenseitige Abhängigkeit. Auch er wolle mit einem Vertrag ausscheiden, beteuerte Johnson, denn ein No Deal wäre "ein Versagen von Staatskunst" auf beiden Seiten.

In den vergangenen Tagen haben Londoner Regierungsvertreter angedeutet, ein möglicher Kompromiss könne darin liegen, die Auffanglösung für Nordirland, den sogenannten Backstop, zu verändern: Statt der Einbeziehung des ganzen Königreichs in eine zeitweilige Zollunion mit der EU könnte sich diese auf Nordirland beschränken. Dies war Brüssels ursprünglicher Vorschlag gewesen, ehe der Vertrag auf Drängen der früheren Regierung unter Theresa May auf das gesamte Land ausgedehnt wurde. Aus Sicht ihrer Regierung wäre die Rückkehr zur alten Lösung "akzeptabel", teilte die irische Europastaatssekretärin Helen McEntee mit. (Sebastian Borger aus London, 10.9.2019)