Forscher konnten beobachten, dass ein gesünderer blauer Kern im Gehirn mit besseren Gedächtnisleistungen im Alter zusammenhängt.

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Berlin – Warum lassen manche kognitiven Fähigkeiten, insbesondere das Erinnerungsvermögen, mit zunehmenden Alter nach? Und wie kommt es, dass sich manche Menschen auch im hohen Alter Neues gut merken können, andere jedoch nicht? Bei der Beantwortung dieser Fragen haben sich kognitive Neurowissenschafter in den vergangenen Jahrzehnten vornehmlich auf die Großhirnrinde und auf den Hippokampus konzentriert, der beim Lernen und Erinnern eine zentrale Rolle spielt.

Mittlerweile liegt der Fokus der Forschung auch auf einer winzigen Zellstruktur, die tief unter der Großhirnrinde im Hirnstamm versteckt ist: der Locus coeruleus oder blaue Kern. Dieser Kern ist nur etwa 15 Millimeter groß und über ein weitverzweigtes Netz von Nervenfasern mit nahezu dem gesamten Gehirn verbunden. Die Nervenzellen, aus denen er besteht, sind die Hauptquelle des neuronalen Botenstoffs Noradrenalin.

Als sogenannter Neuromodulator reguliert Noradrenalin die Kommunikation zwischen Nervenzellen und trägt damit wesentlich zur Kontrolle von Stress, Gefühlen und Aufmerksamkeit bei. Zudem haben Tierstudien gezeigt, dass Noradrenalin auf zellulärer Ebene Umbauvorgänge unterstützt, die die langfristige Speicherung neuer Erinnerungen ermöglichen. Erfolgreiche Lern- und Gedächtnisprozesse basieren möglicherweise auf einem gut funktionierenden Locus coeruleus, vermuten Forscher vom Max-Planck-Institut für Bildungsforschung.

Dem Vergessen auf der Spur

Mit fortschreitendem Alter zeigt der Locus coeruleus zunehmend Verfallserscheinungen, die wahrscheinlich auf die Ansammlung von Giftstoffen aus dem Blutkreislauf und aus der Flüssigkeit, die Gehirn und Rückenmark umgibt, zurückzuführen sind. Neuere Forschungsergebnisse weisen zudem darauf hin, dass krankhafte Veränderungen im Zuge der Alzheimer-Demenz zuerst im Locus coeruleus auftreten könnten und von dort aus Hirnregionen erreichen, die für das Gedächtnis zuständig sind, bevor sie schließlich in späteren Krankheitsstadien große Teile des restlichen Gehirns erfassen.

"Neue Studien, die das Hirngewebe Verstorbener untersuchten, zeigen, dass einer der wesentlichen Krankheitsindikatoren der Alzheimer-Demenz bei den meisten Menschen mittleren Alters im Locus coeruleus festgestellt werden kann", sagt Mara Mather, Gerontologin an der University of Southern California.

Markus Werkle-Bergner vom Forschungsbereich Entwicklungspsychologie des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung, fügt hinzu: "Frühere Tierversuche legten eine Verbindung zwischen einem gesünderen Locus coeruleus und besseren Lern- und Gedächtnisleistungen nahe. Es ist daher wichtig zu verstehen, ob alterungsbedingte Veränderungen des Locus coeruleus auch bei Menschen mit Gedächtniseinbußen im Alter zusammenhängen."

Die Rolle des Locus coeruleus

Aufgrund seiner geringen Größe und der Lage tief im Hirnstamm war es bislang nahezu unmöglich, den Locus coeruleus am lebenden Menschen zu untersuchen. Durch MRT und weiterentwickelter Analyseverfahren kann diese Gehirnregion nun nicht-invasiv sichtbar gemacht werden. Mit diesen Verfahren haben die Wissenschafter vom Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung den Locus coeruleus von 66 jüngeren Menschen mit einem Altersdurchschnitt von 33 Jahren und 228 älteren Menschen mit einem Altersdurchschnitt von 72 Jahren näher untersucht.

Alle Probanden absolvierten zunächst im Rahmen der Berliner Altersstudie II (BASE-II) eine Reihe neuropsychologischer Gedächtnistests. Beispielsweise sollten sie sich eine fünfzehn Worte umfassende Liste über mehrere Durchgänge hinweg einprägen und anschließend wiedergeben. Wie erwartet lösten die jüngeren Probanden die Aufgaben im Mittel besser als die älteren. Auffällig war jedoch, dass jene älteren Teilnehmer, deren Locus coeruleus denen der jüngeren Probanden ähnelte, besser abschnitten als ältere Probanden, deren Locus coeruleus deutliche Anzeichen alterungsbedingter Veränderungen aufwies.

Möglicher krankheitsspezifischer Biomarker

"Der Locus coeruleus ist ein sehr empfindlicher Teil des Gehirns. Unsere Studie zeigt, dass alterungsbedingte Beeinträchtigungen seiner Struktur und Funktion weitreichende Folgen für Aufmerksamkeit und Gedächtnis haben. Künftige Langzeitstudien müssen ergründen, ob auch krankheitsbedingte Prozesse die Alterung des Locus coeruleus beschleunigen", sagt Martin Dahl, Erstautor der Studie.

Die Forscher betonen, dass bei Erkrankungen wie der Alzheimer-Demenz im Locus coeruleus neuropathologische Veränderungen bereits sichtbar sind, bevor die ersten Verhaltensänderungen auftreten. Diese Periode könnte ein Zeitfenster darstellen, in dem die Krankheitsentwicklung noch beeinflusst werden kann. Weitere Langzeitstudien, die sowohl den Locus coeruleus als auch krankheitsspezifische Biomarker erfassen, könnten ein neues Licht auf die Unterschiede und Gemeinsamkeiten gesunder und pathologischer Gedächtnisveränderungen im Alter werfen, hoffen die Wissenschafter. (red, 11.9.2019)