Acht Glashütten stehen im schwedischen Dalsland in der freien Natur, um Workaholics Entspannung zu bieten.

Foto: Anna-Lena Lundqvist/Westsweden.com

Die Entschleunigung in der Idylle ist die neueste Facette eines touristischen Massenphänomens.

Foto: Jonas Ingman

Abends ist der Regen mein Nachtradio, er trommelt aufs Dach wie Finger eines Percussion-Musikers auf ein Bongo.

Foto: Jonas Ingman

Der Wald weckt Urvertrauen, dieses Habitat unserer Vorfahren, der Jäger und Sammler.

Foto: Jonas Ingman

Ein Trip ins skandinavische Outback hat mit den Bahamas nun einmal so wenig zu tun wie ein Knäckebrot mit einer Kokosnuss.

Foto: Jonas Ingman

Am zweiten Tag in der Wildnis ist die letzte Verbindung zur Außenwelt abgerissen. In ein schwarzes Nichts hat sich der Bildschirm meines Handys verwandelt. Wasser ist hineingesickert, nachdem mein Kajak gekentert war, am felsigen Ufer des Laxsjöns, eines Sees im tiefen Westen Schwedens. Das Ungeschick eines Kopfmenschen aus der Großstadt, der hemdsärmelig sein wollte und schon beim Einstieg in ein kleines Boot die Balance verlor. Zu Hause in Berlin hätte ich wegen des kaputten Geräts längst getobt wie ein Kleinkind. Hier, in der Abgeschiedenheit der skandinavischen Einöde, verursacht dessen Havarie nur einen kurzen Trennungsschmerz.

Auf der Halbinsel Baldersnäs in Dalsland, einer Region, wo pro Quadratkilometer nur elf Menschen leben, mache ich zwischen Stock, Stein und ruhenden Gewässern einen Versuch. Wie kann Müßiggang in dieser Kulisse den rastlosen Geist eines Internet-Junkies, Büroarbeiters und Metropolenmenschen besänftigen? Mein Rückzugsort ist eine Hütte auf einem bemoosten Hang an besagtem See: die Kemenate eines Zivilisationsflüchtigen mit einer Fläche von fünf Quadratmetern. Gebaut ist das Giebelhäuschen größtenteils aus Glas – um freie Sicht auf den Spielplan im Naturtheater zu haben, auf Kumuluswolken tagsüber, auf weiße Nächte, auf Waldkäuze und Elstern, auf raschelndes Blätterwerk.

Übernatürliche Wirkung

Dem Aufenthalt in diesem Atrium und der Flora und Fauna rundum attestiert die lokale Tourismusbehörde eine fast schon übernatürliche Wirkung. "Stress und Anforderungen des Alltags werden begraben", verspricht sie. Man wolle "den Rest der Welt dazu einladen, den entspannenden Effekt der schwedischen Natur zu erleben". Acht dieser Hütten gibt es in Dalsland, verstreut auf den Arealen von Ferienanlagen. Entworfen hat sie Jeanna Berger, eine junge Architektin aus der Region; vor etwas mehr als zwei Jahren wurde das erste Exemplar in die Botanik gezimmert.

72-Hour-Cabins haben PR-Leute die minimalistischen Gehäuse genannt – weil drei Tage schon ausreichen sollen, um Stresshormone abzubauen und den Cortisolspiegel zu senken. Angeführt wird dabei eine Studie von Stressforschern. Sie haben Karrieristen aus Städten wie New York, Paris oder London in die Häuschen eingeladen und nach ihren Auszeiten die Blutwerte gemessen. Meine Hütte steht auf dem Grundstück eines Herrenhauses aus dem frühen 20. Jahrhundert, das heute ein gediegenes Hotel ist – im verwilderten Teil des Parks, der das Gebäude säumt.

Ausstieg auf Zeit

Die Entschleunigung in der Idylle ist die neueste Facette eines touristischen Massenphänomens: des Teilzeitausstiegs von Großstädtern aus der Monotonie ihres Bürolebens, aus der Verschmelzung mit ihren digitalen Endgeräten. Immer mehr Workaholics aus der westlichen Welt pilgern zu Orten der Besinnung, ob in Yoga-Retreats in Costa Rica oder Schweigeklöster in Myanmar. Nun wird die Natur vor der eigenen Haustür als Sanatorium entdeckt – eine Weltflucht, die müde Eskapisten bereits im mittleren 19. Jahrhundert angetreten haben.

Damals veröffentlichte der amerikanische Philosoph Henry David Thoreau seine vielzitierte Einsiedelei-Beschreibung "Walden", die Bibel aller Aussteiger. In eine Blockhütte in Neuengland war der Einzelgänger gezogen, an einem naturtrüben See, nur ein paar Kilometer von seiner Geburtsstadt entfernt. Thoreau wollte sich dort auf Sinnsuche begeben. Er plante, "dem eigentlichen, wirklichen Leben näherzutreten, zu sehen, ob ich nicht lernen konnte, was es zu lehren hätte, damit ich nicht, wenn es zum Sterben ginge, einsehen müsste, dass ich nicht gelebt hatte".

Skandinavisches Outback

Was ist die Lektion aus dem Leben im Bann der 72-Hour-Cabin? Es geht vor allem darum, Routinen zu verlernen. Morgens weckt mich das Dämmerlicht des anbrechenden Tages – während der Handyalarm, der mich sonst aus dem Schlaf reißt, nur als leises Echo im Unbewussten nachhallt. Abends ist der Regen mein Nachtradio, er trommelt aufs Dach wie Finger eines Percussion-Musikers auf ein Bongo. Übrigens beschert das Wetter an diesem Ort keine sonnendurchfluteten Motive für den Instagram-Account.

Ein Trip ins skandinavische Outback hat mit den Bahamas nun einmal so wenig zu tun wie ein Knäckebrot mit einer Kokosnuss. Meine Meditationen: Eierschwammerln suchen im Wald, vergeblich auf Lichtungen nach Elchen schauen. Zerstreute Wanderungen durchs Unterholz, wie sie auch Thoreau in seiner berühmten Schrift beschreibt, die mein Reisebuch ist.

Sicht auf Gewächse

Das Wohltuende an der Landschaft ist, dass sie so heimisch erscheint: die Farne und Butterblumen, aber auch die Eichen, die ihre Äste über das Dach der gläsernen Hütte strecken. Abends wirken sie wie die gichtigen Hände eines Urgroßvaters, der einem Enkel über die Wangen streichelt. Der Wald weckt Urvertrauen, dieses Habitat unserer Vorfahren, der Jäger und Sammler. Vielleicht haben jene Wissenschafter doch recht, die behaupten, dass eine grüne Umgebung lindert und heilt. Ich denke an eine vielbeachtete Studie des amerikanischen Wissenschafters Roger S. Ulrich. Deren Ergebnis: dass Patienten, deren Fenster im Krankenhaus auf Bäume im Innenhof gerichtet waren, schneller gesundeten als Leidensgenossen ohne Sicht auf Gewächse.

Was für eine Ironie: Ausgerechnet jener Landstrich, der dem Organismus auf eine ähnliche Weise zur Ruhe verhilft, war früher einmal ein Zentrum der Akkordarbeit in Schweden. Im 19. Jahrhundert wurde in Dalsland in heißlaufenden Fabriken Eisenerz zu Stahl gegossen. Im frühen und mittleren 20. Jahrhundert produzierten Facharbeiter Chlor, im Werk der Elektrokemiska Aktiebolaget, mitgegründet von Alfred Nobel.

Rauchzeichen

Als ich nach einem geglückten Seegang mit dem Kajak über den Laxsjön paddle, erblicke ich in der Ferne ein Rauchzeichen aus der industriellen Vergangenheit: den Schlot einer Papierfabrik, umgeben von den rührigen Schwedenhäuschen einer Siedlung namens Billingsfors. Das Werk ist in einer ehemaligen Eisenhütte angesiedelt worden, es belebt heute die westschwedische Wirtschaft.

Ein Denkmal aus dem Industriezeitalter ist auch jenes Herrenhaus, das meine Treppe in die örtliche Zivilisation ist. Vor etwas mehr als einem Jahrhundert gönnte sich Rudolf Lilljeqvist, ein sendungsbewusster Fabrikdirektor, den Bau im Stil der Neorenaissance. Seine Zierde ist ein englischer Garten, so gepflegt, dass sich die Greenkeeper von Buckingham Palace verbeugen würden. Der Rasen ist gestutzt, die Kronen der Rotbuchen sind majestätisch.

Uriges Naturerlebnis

In diesem Palast übernachten vor allem schwedische Pärchen über 50, deren Porsche auf dem Hof parkt. Wenn ich abends im Kaminzimmer auftauche, wo mit weißer Serviette und funkelndem Besteck diniert wird, fühle ich mich wie ein Landstreicher: die kurze Hose von Erde bestäubt, die Beine von Ameisen zerstochen. Die Hotelgäste bleiben ungerührt, Frauen in Blousons, Männer in Polohemden. "Hej, hej", murmeln sie und tunken ihre Löffel in die Tomaten-Gazpacho.

Das Herrenhaus betrete ich, um den Service zu beanspruchen, der zur Buchung der 72-Hour-Cabin gehört: ein Drei-Gänge-Menü, das Extra zum Frühstückskorb, den Angestellte des Hotels morgens auf den Stufen der Hüttentür ablegen. Zudem kann ich in ein Zimmer im dritten Stock verschwinden, um mich zu duschen. Irgendwann zwischendurch haben Hausgeister auch das Kajak an der Böschung des Sees abgestellt. Ein Luxus, der die Illusion vom urigen Naturerlebnis ankratzt: Das Silentium ist, trotz aller Philosophie, natürlich vor allem ein Wellnessangebot. Letztlich bin ich nur ein gratismutiger Tourist, angereist mit Flieger und Mietauto, die Tickets für die Rückfahrt im Rucksack.

Tranceartige Nachtruhe

Manchen Besuchern scheint die Rast dennoch gutzutun. Im Foyer erzählt die Hotelchefin Susanne Björk Jensen, früher einmal eine Managerin in L.A., ehe sie nach Schweden zurückkehrte, von wundersamen Heilungen – etwa von einer ausgebrannten Frau, die vor Freude weinte, weil sie endlich einmal nachts durchgeschlafen hatte.

In tranceartiger Nachtruhe war ich auch, hypnotisiert vom Regen, der aufs Haupt der Hütte prasselte. Das ehemalige Industrierevier ist ein guter Urlaubsort. Am Tag der Abreise leuchtete das Handy übrigens wieder. In der Hütte hat es sich regeneriert. So wie ich auch. (Philipp Wurm, 13.9.2019)