Im Naturhistorischen Museum Wien befinden sich Instruktionen Humboldts zur Expedition der österreichischen Fregatte Novara und einige Briefe und andere Schreiben Humboldts.
Foto: NHM Wien

Als am 30. April 1857 die österreichische Fregatte S. M. Novara von Triest aus in See stach, war sie unter anderem ausgerüstet mit detaillierten Instruktionen von Alexander von Humboldt höchstpersönlich. Der berühmte Naturforscher war mit seinen 87 Jahren für damalige Verhältnisse außergewöhnlich hochbetagt, dennoch wurde seine Expertise noch immer hochgeschätzt. So hatte der Oberkommandierende der österreichischen Marine, Erzherzog Ferdinand Maximilian, späterer Kaiser von Mexiko, bereits im Vorfeld des Novara-Projekts Kontakt zu Humboldt aufgenommen, um sich Tipps in Sachen Großexpeditionen zu holen.

Zwei der Novara-Besatzungsmitglieder, Expeditionsschreiber Karl von Scherzer und Ferdinand von Hochstetter, Geologe und späterer Direktor des Naturhistorischen Hofmuseums, besuchten in der Folge Humboldt in Berlin, um sich eingehend beraten zu lassen. Immerhin ging es um die erste (und einzige) Weltumsegelung der österreichischen Marine: ein Prestigeprojekt, mit dem man unter dem Deckmantel einer wissenschaftlichen Mission ein wenig Kolonialluft schnuppern bzw. wirtschaftlich günstige Standorte in Hinblick auf Kohlelager und andere Ressourcen ausloten wollte, wie Christa Riedl-Dorn erläutert.

Wissenschaftsrevolutionär

Riedl-Dorn ist Leiterin des Archivs für Wissenschaftsgeschichte am Naturhistorischen Museum (NHM) in Wien. Dort befinden sich auch besagte Expeditionsinstruktionen und zahlreiche Briefe Humboldts, die Einblick in dessen Verbindungen nach Österreich geben. Der Geburtstag Humboldts, der sich am 14. September zum 250. Mal jährt, sowie der 160. Jahrestag der Rückkehr der Novara am 26. August 1859 – nur wenige Monate nach Humboldts Tod am 6. Mai jenes Jahres – nahm Riedl-Dorn zum Anlass für ein Symposium, das heute, Mittwoch, am NHM stattfindet und auch die Schnittmengen zwischen Humboldt und der Novara-Expedition beleuchtet.

Diese sind auch exemplarisch dafür, wie das System Humboldt – der gern als Prototyp des modernen Netzwerkers dargestellt wird – funktionierte. "In den Vorbereitungen der Novara-Expedition schlug Humboldt Themen vor, die er selbst in seinem Lebenswerk ,Kosmos – Entwurf einer physischen Weltbeschreibung' behandelte und die ihn interessierten", sagt Petra Gentz-Werner, langjährige Mitarbeiterin der Alexander-von-Humboldt-Forschungsstelle der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Umgekehrt erwähnte Humboldt die Arbeiten von Wissenschaftern, die an der Novara-Expedition beteiligt waren, in der Kosmos-Reihe und bewahrte sie zur weiteren Verwendung auf, schildert Gentz-Werner.


Bild nicht mehr verfügbar.

Zeichnungen waren für Alexander von Humboldt Medien zur Wissensvermittlung genauso wie Texte. Das berühmte "Naturgemälde der Tropenländer" skizziert ähnlich einer modernen Infografik die Verteilung von Pflanzen und klimatische Verhältnisse anhand eines Querschnitts durch den Vulkan Chimborazo.
Foto: akg-images / picturedesk.com

Mit dem Kosmos verschriftlichte Alexander von Humboldt im hohen Alter seinen revolutionären Ansatz eines ganzheitlichen Verständnisses der Welt mit all ihren Erscheinungen. Basierend auf den in den Jahren 1826 bis 1828 gehaltenen, überaus populären Kosmos-Vorlesungen, die er quasi freigehalten hatte, brachte Humboldt 1845 den ersten von fünf "Kosmos"-Bänden heraus, der letzte blieb ein Fragment und erschien 1862 posthum. Um herauszufinden, inwieweit Humboldt als rund 80-Jähriger beim Verfassen dieses komplexen Werks auf sein weit verästeltes Gelehrtennetzwerk zurückgegriffen hat, hat Gentz-Werner den regen Briefwechsel hinsichtlich Übereinstimmungen im Kosmos untersucht.

Geben und Nehmen

"Bisher wurde in der Forschung vor allem betont, dass Humboldt junge Wissenschafter förderte, ihnen Kontakte eröffnete, sie für wichtige Positionen vorschlug und die Bewerbung auch erfolgreich unterstützte, Akademiemitgliedschaften, Stipendien, Forschungsaufenthalte vermittelte und jungen Künstlern Ankäufe durch das Königshaus vermittelte", sagt Gentz-Werner. "Doch er war nicht einfach nur ein Mäzen. Es war ein Geben und Nehmen."

Bild nicht mehr verfügbar.

Humboldt, hier auf einem Gemälde von Georg Friedrich Weitsch aus dem Jahr 1906, gilt heute als Kultur- und Naturforscher.
Foto: akg-images / picturedesk.com

Die Analyse der Wissenschaftshistorikerin ergab, dass die Gegenleistungen für Unterstützung und Posten erheblich waren: So holte sich Humboldt Hilfe bei der Erklärung der Fortschritte auf verschiedenen Gebieten, etwa in Paris bei dem Physiker François Arago. Zahlreiche Wissenschafter wie die Astronomen John Herschel und Franz Encke oder auch der Evolutionsbiologe Charles Darwin, der ihn verehrte, versorgten Humboldt mit Daten und halfen ähnlich einer Peer Review bei der Bewertung der Arbeiten anderer Forscher und bei der Ausarbeitung von Konzept und Titel. Nicht zuletzt waren viele Fachleute damit beschäftigt, Humboldts winzige, kaum leserliche Handschrift zu transkribieren, zu korrigieren, Quellen zu sortieren, neue Ergebnisse hinzuzufügen und bei Übersetzungen die Texte zu aktualisieren.

Die Mechanismen dieses Tauschhandels, die dazu beitrugen, Humboldts Wissenschaftsnetz höchst lebendig zu halten, gehören zu den noch weniger beachteten Seiten des deutschen Weltbürgers und Humanisten, der mit seinem transdisziplinären Denken die Wissenschaftskultur an sich aus den Angeln gehoben hat. Zu weltweiter Popularität brachte es der jüngere Bruder des Staatsmannes Wilhelm von Humboldt aber vor allem durch seine spektakulären Reisen in Gebiete, in die noch kaum ein Europäer einen Fuß gesetzt hatte.

Raus aus der Komfortzone

Seit frühester Jugend sehnte sich Alexander von Humboldt fort aus der öden Komfortzone Berlins. Erst der Tod der Mutter 1796, die ein beträchtliches Erbe hinterließ, ermöglichte dem Bergbauexperten – damals die Hightech-Industrie schlechthin – seine Karriere im preußischen Staatsdienst sausen zu lassen und sich auf eine große Forschungsexpedition vorzubereiten. Nach Fahrten durch Europa, auf denen er Instrumente und Messmethoden erprobte, brach er 1799 gemeinsam mit dem französischen Botaniker Aimé Bonpland in Richtung Südamerika auf. Es folgte eine fünfjährige Reise, die kaum eine Strapaze ausließ und Humboldts unbedingten Willen zur Erforschung sämtlicher Naturphänomene offenlegt – auch unter unwirtlichsten und lebensgefährlichen Bedingungen.

Eine Darstellung von Nachtaffen aus der Feder Humboldts (aus: "Tierleben", Friedenauer Presse).
Foto: Universität Bern

Immer eine Armada an sensiblen Messgeräten im Gepäck, entdeckten die beiden die Verbindung zwischen dem Orinoko und dem Amazonas, verorteten den magnetischen Äquator, erforschten den rund 6300 Meter hohen Vulkan Chimborazo im heutigen Ecuador, der damals als höchster Berg der Welt galt, und dokumentierten eine schiere Unmenge an Tieren, Pflanzen, Steinen, Wetter- und Klimaphänomenen. "Alles ist Wechselwirkung", schloss Humboldt, der die Welt als Ökosystem betrachtete, noch bevor der Begriff existierte. Teil dieser holistischen Sichtweise war für ihn selbstverständlich auch der Mensch. Entgegen den damaligen Gepflogenheiten zeigte er höchst respektvolles Interesse an den Kulturen der Indigenen, verurteilte Sklaverei und stand stets zu seiner liberalen, republikanischen Einstellung. Und machte auch kein Hehl über seine Verzückung über die Wunder der Natur: Gefühl und Intuition waren für ihn kein Widerspruch zu Akribie. Auch im Scheitern sah er eine Wissensbereicherung.

Popstar mit vielen Seiten

Nach seiner Rückkehr lebte der multilinguale Humboldt mehr als zwei Jahrzehnte in Paris, schrieb unablässig an Büchern und Essays, die ihrerseits ein aufeinander bezogenes Netzwerk bilden, immer im Fluss, ständig am Sprung. Seine zweite große Forschungsreise führte ihn 1829 ins Russische Reich und bis an die chinesische Grenze.

Angefacht von Daniel Kehlmanns Roman "Die Vermessung der Welt" (2005) und Andrea Wulfs Bestseller "Alexander von Humboldt und die Erfindung der Natur" (2016) avancierte der Mann, der kein Privatleben zu haben schien, zum Popstar – und in Zeiten der Klimakrise eben auch zum Ökopionier. Andere Forscher fokussieren auf "Alexander von Humboldt und die Globalisierung", wie Humboldt-Experte Ottmar Ette (Suhrkamp) oder auf seine Meilensteine in der Zoologie wie der aktuelle Band "Tierleben" (Friedenauer Presse). Dabei gibt es wohl noch einige Seiten des Natur- und Kulturforschers zu entdecken. Zigtausende Dokumente aus dem Nachlass harren noch der breiteren Analyse – ein Langzeitprojekt in gewohnt Humboldt'scher Manier. (Karin Krichmayr, 11.9.2019)