Überraschend kam sie nicht, die Ankündigung Benjamin Netanjahus, im Fall eines Wahlsiegs das Jordantal zu annektieren. Immer wieder hatte der israelische Premier in den vergangenen Jahren deutlich gemacht, dass er Israels Sicherheitskontrolle über die 1967 eroberten Gebiete niemals aus der Hand geben werde. Und auch vor der jüngsten Wahl im vergangenen April lockte er mit dem Versprechen, Teile des Westjordanlands zu annektieren.

Überraschend ist hingegen, wie dreist Netanjahu mit seinem fragwürdigen Versprechen eine Woche vor der Parlamentswahl auf Stimmenfang geht. "Dies ist eine Demokratie. Ich werde nichts ohne ein klares Mandat tun. Deshalb bitte ich Sie um dieses Mandat, um diesen Schritt zu gehen", forderte der unter Druck stehende Regierungschef die Bürgerinnen und Bürger auf, für ihn zu stimmen – ein verzweifeltes Ringen um Wählerstimmen von einem, der ums politische Überleben kämpft.

Israels Premier Benjamin Netanjahu schüttelt auf Wahlplakaten die Hand des US-Präsidenten Donald Trump.
Foto: APA/AFP/AHMAD GHARABLI

Es läuft schlecht für "Bibi", wie sie ihn in Israel nennen. Sehr schlecht. Die Umfragen prophezeien ein enges Rennen. Und selbst wenn Netanjahus Likud-Partei am Ende stärkste Kraft wird, ist nicht gesagt, dass der Premier eine Regierung zustande bringt. Seinen einstigen Verbündeten Avigdor Lieberman von der Partei "Unser Haus Israel" hat er nach dem Scheitern der Koalitionsverhandlungen im Mai zum Feind erklärt. Und dieser plädiert längst für eine große Koalition.

Damoklesschwert

Auf Liebermans Empfehlung für den Auftrag zur Regierungsbildung kann Netanjahu nicht mehr zählen. Liebermans Partei hat Netanjahu bereits Anfang der Woche auflaufen lassen, als sie im Regelungskomitee gegen das umstrittene Kameragesetz stimmte. Der Likud hatte das Gesetz initiiert, das es Parteimitarbeitern erlauben sollte, in Wahllokalen zu filmen. Angeblich, um Wahlbetrug zu verhindern. Nun ist es vom Tisch – eine herbe Niederlage für Netanjahu.

Obendrein schweben die Korruptionsvorwürfe wie ein Damoklesschwert über dem Premier. Generalstaatsanwalt Avichai Mandelblit plant, Netanjahu wegen Betrugs, Bestechlichkeit und Untreue anzuklagen. Dafür bedarf es allerdings zunächst einer Anhörung. Und die folgt Anfang Oktober – genau in jener Zeit, in der die Koalitionsverhandlungen stattfinden. Zwar hat Netanjahu längst angekündigt, auch im Fall einer Anklage weiterregieren zu wollen. Fraglich ist aber, ob genügend politische Partner bereit sind, einen angeklagten Premier mitzutragen.

Das Mitte-Bündnis Blau-Weiß unter Benny Gantz – einer Koalition mit dem Likud grundsätzlich nicht abgeneigt – will nicht über eine gemeinsame Regierung diskutieren, solange Netanjahu noch an der Parteispitze steht. Und dieser ist sich mittlerweile selbst des Rückhalts in den eigenen Reihen nicht mehr ganz sicher. Vor kurzem ließ er sich die Loyalität seiner Parteifreunde schriftlich zusichern. Kann das Annexionsversprechen sein politisches Überleben retten? Möglich ist, dass Netanjahu damit lediglich Wählerstimmen innerhalb des rechten Lagers verschiebt und keine neuen hinzugewinnt.

Doch der langjährige Ministerpräsident ist einer, der nichts unversucht lässt, um seinen Machterhalt zu sichern. Immer wieder hat er bewiesen, dass er kurz vor Wahlen auch zu drastischen Mitteln und Hetzparolen gegen politische Gegner greift. Noch bleiben ihm fünf Tage. Sein Annexionsversprechen dürfte nicht sein letzter Schritt gewesen sein. (Lissy Kaufmann, 11.9.2019)