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Stefan Zweig im Jahr 1933.

Foto: Picturedesk / Imagno / Archiv Setzer - Tschiedel

Das Jahr 1937: Die liberale intellektuelle Elite des Landes ahnte zwar etwas, wollte es aber nicht wahrhaben. In der prachtvollen Jugendstilvilla von Alma Mahler-Werfel und Franz Werfel fand ein großes Abschiedsfest statt (Alma Mahler wollte nach dem Tod ihrer Tochter nicht mehr darin wohnen).

Der Abschied beginnt mit einem großen Fest im Juni 1937, es endet erst am Nachmittag des nächsten Tages. Der Journalist und Buchautor Herbert Lackner beschreibt in Als die Nacht sich senkte die damalige Atmosphäre: "Wieder sind alle da: Minister, Aristokraten, die Hochfinanz und natürlich die Künstler. Egon Wellesz, Bruno Walter und Alexander Zemlinsky vertreten die Musik, Ödön von Horváth, Franz Theodor Csokor und Carl Zuckmayer die Literatur. Eine Schrammelmusikgruppe aus dem nahen Heurigenort Grinzing spielt auf. Franz Werfel singt mit Inbrunst I bin a stiller Zecher und fällt dann betrunken in den Goldfischteich. Carl Zuckmayer übernachtet in der Hundehütte".

Das Fest auf der Hohen Warte kann als letzter Tanz auf dem Vulkan gesehen werden. Lackner, ehemaliger Chefredakteur des Profil, hat in seinem vorigen Buch Die Flucht der Dichter und Denker bereits geschildert, wie die deutschsprachige Geisteselite Hals über Kopf vor Hitler fliehen musste – zuerst in andere europäische Länder, dann letztlich in die USA.

Nicht allen ist es gelungen. Als die Nacht sich senkte, Untertitel: Europas Dichter und Denker zwischen den Kriegen und am Vorabend von Faschismus und NS-Barbarei, geht nun der Frage nach, ob – und warum nicht – die besten Köpfe der europäischen Geisteswelt das Unheil kommen sahen und warum sie nichts dagegen taten – und tun konnten.

Das Motto des Buches ist die Rede des Schriftstellers Michael Köhlmeier, die 2018 in der Wiener Hofburg zum Gedenken an die Befreiung vom Nationalsozialismus gehalten wurde: "Zum großen Bösen kamen die Menschen nie mit einem großen Schritt, sondern mit vielen kleinen, von denen jeder zu klein schien für eine große Empörung. Erst wird gesagt, dann wird getan." Anklänge an heute sind beabsichtigt.

Lackners Buch ist auch eine Auflistung der Ungeheuerlichkeiten, die als Vorspiel der Verbrechen des Nationalsozialismus stattfanden. Vor allem ein vehementer, virulenter und ganz selbstverständlicher Antisemitismus, bei dem sich zunächst die Vorläufer der heutigen türkis-blauen Koalitionspartner hervortaten.

Unpolitischer Hellsichtiger

Der Weltschriftsteller Stefan Zweig, ein im Grunde unpolitischer Hellsichtiger, hatte es schon im Frühjahr 1918, noch im Krieg, vorhergesagt: Die Erbitterung werde sich nicht gegen die Kriegshetzer, sondern gegen die Juden richten. 1919 wütete der christlich-soziale Säulenheilige Leopold Kunschak im Wiener Gemeinderat gegen die vor dem Krieg in die alte Reichshauptstadt geflüchteten Ostjuden: "Daß die öffentliche Moral so tief gesunken, daß das Redlichkeitgefühl so schwer erschüttert ist, das ist in erster Linie durch die jüdischen Flüchtlinge verschuldet (...). Man kann ruhig die Behauptung aufstellen: Die Juden sind nicht nur die Not, sondern auch die Seuche unserer Zeit."

Man muss nur "Juden" durch "Muslime" ersetzen. Großschriftsteller Arthur Schnitzler entging 1921 nur knapp der Lynchjustiz bei einer Aufführung seines erotischen Stücks Der Reigen am Burgtheater. Schnitzler notiert: "Geschrei, Toben, Brüllen. Ein paar hundert sind eingedrungen, attackiren die Besucher; Publikum flieht, wird insultirt; ich auf der Bühne, ungeheure Erregung; eiserner Vorhang vor, Publikum flieht auf die Bühne; das Gesindel tobt, schmeißt Sachen an den Vorhang, will Thüren einbrechen." Der deutschnationale Polizeipräsident Johann Schober verbot jede weitere Aufführung.

Christlich-Soziale und Deutschnationale bildeten ab 1920 eine Koalitionsregierung. Auf Initiative des christlich-sozialen Abgeordneten und Präsidenten des Antisemitenbundes Anton Jerzabek wurde im Parlament eine Novelle zum Volkszählungsgesetz beschlossen: Künftig ist auf dem Volkszählungsblatt eine Kategorie "Volkszugehörigkeit und Rasse" vorgesehen. Bei der damals stattfindenden Volkszählung wird erstmals die Identität der österreichischen Juden erhoben.

Die katholische Reichspost lässt keine Ausgabe ohne antisemitische Hetze vergehen. An den Universitäten herrscht gewalttätiger Terror der Deutschnationalen und beginnenden Nazis gegen jüdische Studierende und Hochschullehrer. Der Kärntner Student Josef Klaus (1910-2001), CV-Mitglied, später von 1966 bis 1970 Bundeskanzler, an den jüdischen Dekan der medizinischen Fakultät: "Nach wie vor steht die Deutsche Studentenschaft auf ihrem 1923 kundgetanen Standpunkt, daß Professoren jüdischer Volkszugehörigkeit akademische Würdestellen nicht bekleiden dürfen."

Das waren "nur" die Christlich-Sozialen. Die Nazis nahm man in Österreich lange nicht ernst. Das Ehepaar Werfel suchte dann doch irregeleitet Schutz beim katholisch-reaktionären Regime. Werfel lobte Schuschnigg in höchsten Tönen, und die 54-jährige Alma begann eine Affäre mit Schuschniggs Beichtvater. Der Priester hatte ihr erklärt, Keuschheit sei nur notwendig, solange er den Talar anhabe. Aber Schuschnigg war kein Schutz gegen Hitler.

Zeitgeist und Skrupellosigkeit der Rechten waren stärker als die Dichter und Denker. Man kann sie nicht verantwortlich machen. Verantwortlich sind allerdings die Heutigen dafür, dass es nicht wieder ähnlich kommt. (Hans Rauscher, 14.9.2019)