Die pakistanische Architektin Yasmeen Lari (78): "Ich habe schon in jedem Desaster in Pakistan gewohnt und gearbeitet."
Foto: Florian Albert, Heritage Foundation of Pakistan

Die Architektin Yasmeen Lari hat bislang mehr als 100.000 Hütten für die Ärmsten der Armen gebaut. Ihr Büro schlägt sie überall dort auf, wo die Natur gewütet hat.

STANDARD: Wann auch immer man einen Text über Sie findet, heißt es jedes Mal: "Yasmeen Lari ist die erste Architektin Pakistans." Wie geht es Ihnen mit diesem Stigma?

Lari: Pakistan befindet sich gerade in einem Umbruch und in einem Prozess der Öffnung. Wir leben in einer Zeit der ersten Ärztinnen, der ersten Pilotinnen, der ersten Bergsteigerinnen. Ich bin halt die angeblich erste Architektin. Es ist Fluch und Segen zugleich.

STANDARD: Warum?

Lari: Segen, weil man zu Vorträgen in aller Welt eingeladen wird. Fluch, weil es so viele Vorträge sind, dass ich kaum noch mit meiner Arbeit nachkomme. Jetzt habe ich gelernt, Nein zu sagen.

STANDARD: Wozu sagen Sie Nein?

Lari: Zu Ruhm und Ehre. Da war ich schon einmal. Das brauche ich heute nicht mehr.

STANDARD: Sie haben viele Jahre für die Schönen und Reichen gebaut und gelten als die wichtigste Vertreterin der Moderne und des Brutalismus in Pakistan.

Lari: Oh ja! Die Sechziger- und Siebzigerjahre! Eine tolle Zeit! Le Corbusier war unser aller Guru. Er hat mich und uns alle massiv beeinflusst. Ich habe damals einige wunderschöne Projekte wie etwa Einfamilienhäuser, Luxusvillen und diverse Konzern-Headquarter geplant. Viele meiner Projekte wurden publiziert und gelten bis heute als Maßstab für den Brutalismus in unserem Land.

STANDARD: Vermissen Sie die Zeit?

Lari: Nein. Ich habe damals für das eine oberste Prozent Pakistans gebaut. Da wird das Ego schon ziemlich groß. Es gab eine Zeit, da fühlte ich mich, als wäre ich die Nachbarin Gottes. Ich wusste: So kann das nicht weitergehen. Also bin ich wieder herabgestiegen.

STANDARD: Wo sind Sie heute?

Lari: Am Boden. Ich fühle mich wohl und geerdet. Im Rahmen der Heritage Foundation of Pakistan, die ich gemeinsam mit meinem Mann Suhail Zaheer Lari gegründet habe, praktiziere ich das, was ich gerne als "Barefoot Architecture" bezeichne.

Verputzarbeiten mit Lehm und Kalk an einer der Lehmhütten in Pakistan.
Foto: Florian Albert, Heritage Foundation of Pakistan

STANDARD: Das heißt?

Lari: Es gibt viele Menschen, die sich tatsächlich keine Schuhe leisten können, geschweige denn ein einfaches Dach über dem Kopf. Diesen Menschen widme ich meine Arbeit, indem ich sehr einfache Hütten baue, die von Nachbarn und Freunden leicht kopiert werden können: Das Material ist billig und überall vorhanden, die Arbeitsweise simpel, die Bauweise robust. Und das Wichtigste: Meine Projekte kommen zu 100 Prozent ohne Beton aus, denn sobald Zement mit im Spiel ist, ist man auf die Großindustrie angewiesen und in einer Preisspirale gefangen.

STANDARD: Fundamente ohne Zement?

Lari: Ja. Die drei konstruktiven Baustoffe, die ich verwende, sind Lehm, Kalk und Bambus. In manchen Regionen kommen auch Stroh und Kuhdung zum Einsatz. Im richtigen Mischverhältnis schaffen sie ein robustes Fundament und Mauerwerk, das in Hochwasserregionen einer mittelgroßen Flut standhält. Die Langzeiterfahrung mit unseren Konstruktionen zeigt, dass sie sogar Erdbeben aushalten.

STANDARD: Wie ist das möglich?

Lari: Wir mischen Lehm und Kalk in einem speziellen Verhältnis und verwenden vorgefertigte, geschnürte Bambusmatten, die wir ins Mauerwerk setzen, als Bewehrung. Erdbebentests haben ergeben, dass unsere Häuser Erdbeben der Stärke 7 und 8 auf der Richterskala unbeschadet überstehen.

STANDARD: Ihr Büro wandert mit den alljährlichen Naturkatastrophen mit. Wo wohnen und leben Sie denn derzeit?

Lari: Mein Lebensmittelpunkt ist und bleibt Karatschi. Aber es stimmt, ich bin eine Nomadin. 2005: großes Erdbeben in Pakistan. 2010: Überschwemmungen im ganzen Land. 2011, 2012 und 2013: Flut in Sindh. 2013: Erdbeben in Belutschistan. 2014: Hochwasser in Punjab. 2015: Hochwasser und Erdbeben in Khyber Pakhtunkhwa. Erst kürzlich stand Sindh unter Wasser. Mich ziehen die Katastrophen an. Ich habe schon in jedem Desaster gearbeitet.

STANDARD: Wie können wir uns Ihre Arbeit vor Ort vorstellen?

Lari: Als ich 2005 erstmals in die betroffenen Erdbebenregionen aufgebrochen bin, hatte ich 500.000 Pakistanische Rupien in der Tasche, damals nicht einmal 10.000 Euro. Ich wusste: Das muss reichen, um den Menschen zu helfen. Ich entwickle mit den Leuten vor Ort einfache Behausungssysteme, die billig und schnell zu errichten, zugleich aber schöne, hochwertige Bauwerke sind. Das Problem ist nämlich: Architekten bilden sich immer ein, großartige Bauwerke erfinden und errichten zu müssen. Doch sobald sie für arme, bedürftige Menschen planen, degradieren sie ihre Architektur häufig zu etwas Kleinem und Hässlichem. Das macht mich wütend! Die armen 99 Prozent verdienen genauso schöne Häuser wie die wirtschaftliche Elite.

"Schönheit hat nichts mit Geld zu tun." Ein Haus ist für 170 Euro zu haben.
Foto: Florian Albert, Heritage Foundation of Pakistan

STANDARD: Wie finanziert man Schönheit, wenn die Mittel fast null sind?

Lari: Einspruch bei dieser Frage! Wenn eine internationale Hilfsorganisation in Pakistan ein einfaches Wohnhaus errichtet, dann gibt sie in der Regel 600 bis 800 Euro pro Gebäude aus. Im Durchschnitt werden dabei rund 5000 gebrannte Ziegel verbaut. Das ist teuer, geht am Bedarf der Menschen vorbei und respektiert in der Regel keinerlei lokale Ästhetik. Die Ein-Raum-Hütten, die ich mit lokalen Materialien baue, kosten zwischen 120 und 170 Euro pro Stück. Schönheit hat nichts mit Geld zu tun.

STANDARD: Sie haben letzte Woche einen Vortrag im Rahmen der Vienna Biennale for Change gehalten. Was muss sich ändern?

Lari: Wir müssen endlich anfangen, Barefoot Architecture als gleichberechtigte Disziplin zu verstehen. Das muss sich in der Schule, im Architekturstudium und nicht zuletzt auch in der Politik und Wirtschaft niederschlagen.

STANDARD: Wünsche für die Zukunft?

Lari: Ich bin eine permanent Lernende. Leider weiß ich bis heute nicht, wie man meine Arbeit so weit multiplizieren kann, dass wir damit all die Millionen Menschen erreichen, die keine Toilette, keine Küche, kein Dach über dem Kopf haben. Das muss ich noch lernen. (Wojciech Czaja, 14.09.2019)