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Die totale Vermessung, die totale Überwachung: Ist es bald so weit?

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Die Digitalisierung ist für Arbeitgeber ein Segen. Mit Tracking-Technologien lassen sich detaillierte Zeit- und Beobachtungsstudien der Arbeitnehmer durchführen. Immer mehr Unternehmen verteilen unter ihrer Belegschaft Fitnesstracker und legen sogenannte Wellness-Programme auf: Wer sich vermessen lässt und für Fitnesskurse oder Firmenläufe anmeldet, erhält Prämien, wie zum Beispiel kleinere Geschenke oder Freizeitausgleich.

Der Mineralölkonzern BP etwa hat ein Punktesystem eingeführt, bei dem man für bestimmte Aktivitäten Prämien sammeln kann. Wer sich einem biometrischen Screening unterzieht, erhält 250 Punkte auf seinem Konto gutgeschrieben, für jeden millionsten Schritt gibt es weitere 250 Punkte. Bei 2000 Punkten bekommt man einen Geschenkgutschein im Wert von 100 Dollar. Laut einem Bericht der Harvard Business Review bieten mittlerweile 60 Prozent aller US-Unternehmen solche "Wellness-Programme" an.

Investment in die Gesundheit

Die Idee hinter diesen Anreizsystemen ist es, Mitarbeiter zu mehr Bewegung und einem gesünderen Lebensstil zu animieren. Fittere Mitarbeiter, so die Logik, sind weniger krank und produktiver. Arbeitgeber sehen die Bonusprogramme als ein Investment in die Gesundheit ihrer Mitarbeiter. Doch wie eine klinische Studie zeigt, sind die Wirkungen der Wellness-Programme auf Gesundheit und Produktivität marginal. In der Untersuchung, die im April im Journal of the American Medical Association erschienen ist, wurden über einen Zeitraum von 18 Monaten insgesamt fast 33. 000 Mitarbeiter von US-Warenhausketten befragt.

Ergebnis: Zwar waren die medizinischen Kosten etwa für Arztbesuche und Pharmazeutika pro Mitarbeiter höher als in der Kontrollgruppe (die nicht an den Vermessungsstudien teilnahm). Doch die Performanz, die sich etwa in den geleisteten Arbeitsstunden manifestierte, war in beiden Gruppen nahezu identisch. Weder der Cholesterin-Spiegel noch der Body-Mass-Index konnten in dem Untersuchungszeitraum gesenkt werden. Daraus schließen die Forscher, dass derlei Maßnahmen betriebswirtschaftlich weitgehend wirkungslos sind.

So einige Gefahren

Im Gegenteil: Wellness-Programme können sich sogar negativ auf die Mitarbeitermoral auswirken, wie eine weitere US-Studie belegt. Demnach leisten Fitnesstracker einer Überwachungskultur Vorschub, die Lügen und Betrügereien befeuern. Es bestehe die Gefahr, dass der Arbeitsplatz zu einem "Biggest Loser"-Contest verkommt, wo sich Mitarbeiter in allen möglichen Parametern messen und dickleibige Mitarbeiter gedemütigt werden. Ein so hyperkompetitives System, wo Mitarbeiter um jede Kalorie wetteifern und verlorene Pfunde wie Umsatzrekorde feiern, führt zu Stress und Produktivitätsverlusten. Statt sogenannter Wellness-Programme empfehlen die Mediziner Maßnahmen wie etwa gesundes Essen in der Kantine oder Extrapausen, die für Spaziergänge vorgesehen sind.

Zwar ist die Teilnahme an solchen Wellness-Programmen freiwillig. Doch in den USA werden in einigen Unternehmen mittlerweile sogar Strafen verhängt, wenn sich Angestellte verweigern, an Fitnesskursen teilzunehmen. Und auch wenn das Tracking nicht verpflichtend ist, entsteht ein interner Druck.

Zugriff auf alles

Die Organisationssoziologen Carl Cederström und André Spicer beschreiben in ihrem Buch The Wellness Syndrome, wie Wellness zu einer Ideologie im kapitalistischen Zeitalter geworden ist. "Heute ist Wellness nicht etwas, was wir uns aussuchen. Es ist eine moralische Pflicht." Die Autoren schreiben von einer neuen "Biomoralität", bei der der Körper ins Zentrum einer moralischen Steuerungsgewalt rückt.

Die Gefahr dieser Entwicklung ist, dass Unternehmen eine Art biopolitisches Zugriffsrecht aufs Leben erlangen: wie viel der Mitarbeiter schläft, wie viel Sport er treibt, wo er sich aufhält, ob er sich gesund ernährt. Der Arbeitgeber muss nicht mehr Hausbesuche durchführen, um den "Lifestyle" seiner Mitarbeiter kontrollieren (so wie das Henry Ford mit seinem Sociological Department zu Beginn des 20. Jahrhunderts tat) – er sieht alles in der App.

Welche Blüten dieses Kontrollregime treibt, beweist ein Fall aus den USA: Im April dieses Jahres wurde bekannt, dass die Schwangerschafts-App Ovia Menstruationsdaten an Arbeitgeber sendete. Zwar waren die Daten aggregiert, konnten also nicht auf das Individuum zurückgeführt werden. Datenschützer befürchten jedoch, dass die sensiblen Gesundheitsdaten deanonymisiert oder gehackt werden könnten. Menstruations-Apps versprechen, durch die algorithmische Auswertung von Menstruationsdaten die Fruchtbarkeit zu optimieren.

Kritiker äußern ihre Bedenken

Ovia bietet Unternehmen eine spezielle Version seiner App an, wo die Daten mit einer internen Webseite verknüpft werden, auf die auch die Personalabteilung Zugriff hat. So hat man beispielsweise Einsicht, wie viele Frauen in einem Betrieb gerade schwanger sind. Das Wissen um eine anstehende Schwangerschaft bedeutet für Unternehmen Planungssicherheit – und Geld. Kein Wunder, dass der Femtech-Markt boomt: Laut der Consulting-Firma Frost & Sullivan wächst das Geschäft bis 2025 auf ein Volumen von 50 Milliarden Dollar.

Beobachter sehen die Entwicklung mit Sorge. Die Feministin Rachel Dubrofsky kritisierte, dass solche Apps Frauen einem höheren Kündigungsrisiko aussetzten. Je gläserner der Mitarbeiter, desto schwächer wird auch seine Position im Unternehmen. (Adrian Lobe, 17.9.2019)