Die schneidigen Fischerboote von Plastic Whale wurden aus den gesammelten PET-Flaschen gebaut.

Foto: Plastic Whale/_Twycer_

Kescher ausfahren und Plastik einfangen.

Foto: Stefanie Ruep

Der skurrilste Fang war ein Schuh.

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Acht Menschen aus fünf Ländern sammeln im Urlaub Müll aus den Amsterdamer Grachten.

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Auch Schulkinder gehen mit Plastic Whale in Amsterdam fischen.

Foto: Plastic Whale

Erik winkt mit einem Fischernetz, um auf sich und auf das kleine Boot neben dem Monument in der Keizersgracht in Amsterdam aufmerksam zu machen. Langsam findet die bunt gemischte Truppe zusammen: Acht Teilnehmer aus Deutschland, den Vereinigten Arabischen Emiraten, England, den Niederlanden und Österreich wollen heute mit Skipper Erik fischen gehen. Doch wir sind nicht auf Zander, Hecht und Barsch aus, sondern wollen PET-Flaschen aus dem Wasser angeln. Auch Plastikfolien, Dosen und anderer Müll wird in unseren Keschern landen.

Es ist eine Tourismusattraktion, mit der Besucherinnen und Besucher der Stadt etwas zurückgeben. Bei der zweistündigen Grachtenfahrt durch die Kanäle bietet der Skipper eine kleine Stadtführung, Infos über Plastikmüll und das Start-up Plastic Whale. Währenddessen greifen die Touristen selbst zum Netz, um Müll aus dem Wasser zu angeln – gutes Gewissen inklusive.

Die Idee zu dem Angebot kommt von Marius Smit. Der Marketing-Manager reiste früher viel um die Welt. Und fast überall stieß er auf dasselbe Phänomen: Plastikmüll. Er wollte aufhören zu reden und anfangen, etwas dagegen zu tun. Deshalb gründete er 2011 Plastic Whale mit dem Ziel, zumindest in Amsterdam die Kanäle von Plastik zu befreien. 2011 lud er zum ersten Amsterdamer Plastikfischerfest ein. 450 Menschen nahmen teil. Im folgenden Jahr kamen 1.200 Plastikfischer. Die gesammelten PET-Flaschen wurden recycelt und daraus das erste Boot der Flotte gefertigt

Mittlerweile sind in Amsterdam jeden Tag zehn Boote unterwegs. In eines davon steigen wir ein. Jeder Fischer wird ausgerüstet mit Handschuhen und einem Kescher. Getrennt wird der Müll direkt am Boot, er wandert in drei verschiedenfarbigen Plastiksäcke, die in der Mitte festgemacht sind. In den blauen Plastiksack kommen die PET-Flaschen, der weiße ist für anderes Plastik, und im schwarzen Sack landet der Restmüll. "Wir fischen nicht nach biologischem Material wie Holz, toten Fischen oder Vögeln", erklärt Erik. Wer ins Wasser fällt, werde nass und dreckig, gibt der Skipper noch zu bedenken. Mit dem Glockenschlag der angrenzenden Westerkerk-Kirche fährt das Elektroboot mit acht Touristen, die im Urlaub für das Sammeln von Müll bezahlt haben, los.

Flaschen werden zu Booten

Wir haben noch nicht einmal eine Grachtenbrücke passiert, schon schwimmt eine Plastikflasche im Wasser. Erik steuert das Boot zu dem begehrten Fangobjekt. Die Engländerin Cathy, die am Bug steht, wirft den Kescher aus und versucht, die erste Flasche zu erwischen, doch die treibt weg. "Sie sind sehr schlau, diese Flaschen, sie sehen uns und schwimmen weg", sagt Erik mit einem Augenzwinkern. Im zweiten Anlauf ist der erste Müll an Board.

Zwischen 6000 und 8000 Flaschen werden benötigt, um ein Boot zu bauen. Plastic Whale möchte den Menschen zeigen, dass Kunststoff kein Abfall, sondern ein wertvoller Rohstoff ist. Deshalb bauen sie Büromöbel und Boote aus den recycelten PET-Flaschen. Aus den ersten Plastikfischer-Events entwickelte sich die weltweit erste professionelle Plastikfischereiorganisation, die jedes Jahr wächst. Im Vorjahr waren 11.200 Menschen Plastikfischen, 2000 davon waren Schulkinder. 46.000 Flaschen wurden gesammelt, zu Granulat und Schaumstoff verarbeitet und daraus 15 Büromöbelsets und drei Boote gebaut.

Auch wenn derzeit nur die PET-Flaschen zum Upcycling genutzt werden, sind die Fischer bei der Bootstour nicht wählerisch. "Alles, was in das Netz passt, nehmen wir mit. Fahrräder, Kühlschränke oder Sofas lassen wir drinnen", gibt Erik weitere Anweisungen. Das erledigt die Stadt mit eigenen Sperrmüllbooten. Bis zu 15.000 Fahrräder pro Jahr werden aus den Grachten geholt. Das sind 41 Fietsen (Fahrräder auf Niederländisch, Anm.) pro Tag. Wir ziehen ganz andere Fundstück an Board: Eine Spritzpistole, drei volle Bierdosen, eine Kameraabdeckung und ein Ananas-Schwimmtier sind ein Teil des Fangs. Die Frau aus den Emiraten hat einen Nike-Schuh herausgefischt. "Ich glaube, das ist deine Größe", sagt sie zu ihrem Mann und lacht.

"Alles, was in das Netz passt, nehmen wir mit. Fahrräder, Kühlschränke oder Sofas lassen wir drinnen", gibt Skipper Erik Anweisungen.
Foto: Stefanie Ruep

Die Plastic-Whale-Touren sind auch Teil der Tourismusstrategie der Stadt. Mit dem sogenannten "City in Balance"-Programm sollen Tourismusströme entzerrt werden und Besucher auf alternative Aktivitäten aufmerksam gemacht werden. So soll etwas Druck von den Touristenmagneten wie dem Anne-Frank-Haus, dem Rotlichtviertel oder dem Van-Gogh-Museum genommen werden. Bei 19 Millionen Besuchern pro Jahr in Amsterdam fällt auch jede Menge Müll an. Der muss gar nicht direkt in die Grachten geworfen werden: Müll, der neben den Mistkübeln landet, wird irgendwann vom Wind ins Wasser getragen. Auch wenn es wie ein Kampf gegen Windmühlen wirkt, leisten die Plastikfischer zumindest einen kleinen Beitrag.

In Zeiten von Klimakrise und Massentourismus liegt nachhaltiger Ökotourismus im Trend. Im August startete auch in Berlin ein Anbieter von Stadtführungen mit Müllsammelaktionen für Touristen in Parks. In Paris, Barcelona und Edinburgh gab es ähnliche Aktionen.

Cleanfishing statt Greenwashing

Die ersten anerkennenden Worte kommen von einer Frau, die mit ihrer Tochter auf einer Brücke steht. Während ich ein volles Chipssackerl aus dem Wasser fische, ruft sie mir zu: "Good job!" Auch von den anderen Ausflugsbooten, die Touristen durch die Wasserstraßen schippern, werden die Plastikfischer bemerkt. So erwirkt die Aktion auch bei Unbeteiligten eine Bewusstseinsbildung. Manche Passanten wollen gleich mithelfen und zeigen auf Müll, damit wir ihn einsammeln. Bei einem Hausbootbewohner fischen wir eine leere Getränkedose aus seinem Vorgarten. "Thanks a lot", sagt er aus dem Fenster. Drei italienische Touristen, die auf einer Parkbank die Sonne genießen, klatschen sogar, als wir weitere Dosen und Plastikflaschen herausholen.

Jedes Jahr organisiert die Plastic Whale Foundation zwei öffentliche Veranstaltungen an den am stärksten verschmutzten Tagen des Jahres: am Tag nach dem Königstag und am Tag nach der Canal Parade. Zusammen mit 248 Leuten wurden im Vorjahr 245 Säcke Abfall aus den Amsterdamer Grachten gefischt.
Plastic Whale - The Plastic Fishing Company

Lob kommt bekanntlich auch bei Mitarbeitern gut an. Deshalb buchen auch zahlreiche Unternehmen die Boote, um ihre Belegschaft nach Plastik fischen zu lassen. Im Vorjahr waren 300 Firmen beim Müllfischen von Plastic Whale. Das schweißt das Team zusammen und gibt der Firma einen grünen Anstrich – Clean fishing statt Greenwashing. Sponsoren übernehmen die Baukosten für die Boote. Die Werbepartner – etwa der Schokoladenhersteller Tony's Chocolonely, eine Bank, der Waschmittelproduzent Ecover oder ein plastikfreier Supermarkt – dürfen dafür ihren Schriftzug am Boot anbringen.

Neun Säcke Müll in zwei Stunden

Nach zwei Stunden nähern wir uns wieder unserem Ausgangspunkt. "Es ist ein Wahnsinn, was wir alles herausgefischt haben, wenn man bedenkt, dass hier in Amsterdam zehn Boote unterwegs sind", zieht ein junger Deutscher ein Resümee. Seine Freundin hat ihn mit der Urlaubsaktivität überrascht. Das Pärchen ist auch bei Fridays for Futures aktiv. Das Resultat des Angeltrips kann sich sehen lassen: Acht Fischer aus fünf verschiedenen Ländern haben neun volle Säcke Müll aus den Kanälen geholt: eine Kiste Glasflaschen, vier Säcke Plastikmüll, ein Sack Plastikflaschen und drei Säcke Restmüll. Die recycelbaren Flaschen nimmt Erik für neue Boote mit. Der Restmüll landet in einem Container an der Anlegestelle, und der Rest wird fachgerecht entsorgt. Wir geben unsere Fischernetze ab und sind nun wieder Touristen. (Stefanie Ruep, 16.9.2019)