Liberales Vorspiel im "Kit Kat Club", ehe die braune Flut kommt: Probenbild aus der Wiener Volksoper.

Foto: Barbara Pálffy/Volksoper

Die Reise des englischen Schriftstellers Christopher Isherwood (1904–1986) in das Berlin der ausgehenden Zwanziger-Jahre glich einer Fahrt in die Unterwelt. Nicht weniger markierte sie aber auch den Übertritt in einen weltexklusiven Glücksbezirk. Dieser schien vollgestopft mit Verheißungen, mit liberalen Lockungen und extravaganten Zerstreuungsangeboten. Das Land, in dem das Musical Cabaret spielt, war nie ganz von dieser Welt: Künstler aus aller Herren Länder hetzen von einem Vergnügungstempel zum nächsten.

Der berüchtigte "Kit Kat Club" ist das verdichtete Modell all der Revuetheater, derentwegen man Berlin für die vitalste, zugleich für die verruchteste Metropole der Roaring Twenties halten konnte. Varieté, Kabarett und die maßlos kitschigen Dekorationen bilden allabendlich die Kulisse für barbusige Damen und sexuell ambivalente Conferenciérs in bunt schillernden Aufzügen.

Beschwörung eines Kippphänomens

Cabaret, das am Samstag in der Wiener Volksoper Premiere feiert, entstand als Musical in den 1960ern. Entscheidender als sein kolossaler Bühnenerfolg, der von der Bob-Fosse-Verfilmung (1972) mit Liza Minelli kaum noch getoppt werden konnte, ist die Beschwörung eines Kippphänomens. Denn während die Zuseher vor und auf der Bühne noch willkommen geheißen werden, braut sich über den Dächern Berlins und auf seinen Pflasterstränden bereits das Unheil zusammen. Noch ist die braune Machtergreifung nur zu ahnen.

"Willkommen, Bienvenu, Welcome": Das Gegenstück zu Glanz und Talmi in der Spree-Stadt bilden die Pensionen und Absteigen, in denen auch Cabaret, das Bühnenstück, seine absichtsvolle Ausnüchterung erfährt. Noch genauer als der Bühnentext von Joe Masteroff und Fred Ebb (Musik: John Kander) vermitteln Christopher Isherwoods als Vorlage dienenden Romane Mr. Norris steigt um (1935) und Leb wohl Berlin (1939) einen lebhaften Eindruck von der drohenden Zeitenwende.

Aus- und Abschweifungen

Fast scheint es, als würde der Gedanke der Aus- und Abschweifung noch einmal vorsätzlich auf die Spitze getrieben. Jung-Autor Clifford Bradshaw, Isherwoods Alter Ego, bildet mit der englischen Revuesängerin Sally Bowles ein Paar, ohne dass die beiden bürgerliche Rücksichten üben müssten. Umgekehrt turtelt Cliffords Zimmerwirtin mit einem ihrer Gäste, einem honorigen jüdischen Obsthändler. Die antisemitische Gewalt schießt wie eine Stichflamme empor. Die Zeitstimmung von damals ähnelt in wichtigen Aspekten der angstgetriebenen heutigen. Isherwoods Norris-Roman erzählt z.B. von Exzentrikern, die für die Kommunisten arbeiten und zugleich unfähig sind, sich mit den neu anbrechenden Zeiten zu arrangieren.

In den Berliner Jahren von etwa 1920 bis 1933 konnte man Isherwood an der Seite seines Freundes und Dichterkollegen W.H. Auden begegnen. (Aus letzterem wurde lange nach dem Zweiten Weltkrieg ein begeisterter Wahlniederösterreicher.) In Eric Charells weltberühmten Revuen begegnete man erstmals den Rhythmen des Jazz – während die Tänzerin La Jana "sehr entblößt auf einem silbernen Tablett in die Menge getragen" wurde. Das Leben schien mit der Kunst für kurze Zeit untrennbar verschmolzen.

Bald schon stoben die Miterfinder der Berliner Moderne in alle Himmelsrichtungen auseinander. Hitler war in der Operettenparodie Quo vadis? von Paul Morgan und Kurt Robitschek dem beißenden Spott der Satire preisgegeben worden. Hitler soll diese Schmähung weder verwunden noch vergessen haben. Die Verfolgung jüdischer Künstler wurde nach der Machtergreifung von ihm mit besonderer Verve betrieben. (Ronald Pohl, 14.9.2019)