Irgendwo in der tiefsten Banlieue von Paris wird gerade das Gedenken der Menschheit gerettet. An dem unscheinbaren Fabrikgebäude aus rotem Backstein in Montreuil hängt nicht einmal ein Firmenschild. Das Innere ist vollgestopft mit alten Tonspur- und neuen Aufnahmegeräten, mit Bildschirmen, Schallwänden und Lautsprechern.

Im Studio C legt Tonmeister Emiliano Flores vorsichtig die Nadel auf eine 75 Jahre alte Lackplatte. Knistern, Rauschen. Ein Zeitsprung zurück. Eine Stimme krächzt, der Reichsmarschall sei ehrlich empört gewesen über die Erschießungen. NS-Außenminister Joachim von Ribbentrop will mit der lächerlichen Behauptung glauben machen, der Mitangeklagte Hermann Göring habe nichts zu tun mit dem Tod britischer Luftwaffenoffiziere, die aus dem Gefangenenlager Stalag 3 fliehen wollten.

Emiliano Flores hebt die Nadel wieder von der schwarz glänzenden Scheibe, die einen Aluminiumkern aufweist. Sie ist größer als herkömmliche Vinyl-Schallplatten, dreht sich aber ebenfalls 33 mal pro Minute. Dann spielt der französische Tonmeister die gleiche Sequenz nochmals ab, diesmal auf dem Computer. Die lauten Knackgeräusche sind verschwunden, die spitzen Hochtöne geglättet. Die ganze Tonkulisse hört sich runder an, angenehmer auch.

Die Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse gelten als Modell für internationale Strafgerichtsverfahren.
Foto: APA/AFP

986 Stunden durchhören

"Das ist nicht ganz belanglos, wenn Sie tausend Stunden Prozess hören müssen", sagt Flores. Er weiß, wovon er spricht. Der Toningenieur des Pariser Kleinunternehmens Gecko hat die 986 Stunden Dauer des Hauptprozesses der Nürnberger Serie von Anfang bis Ende abgehört, Minute für Minute. Das war nötig, um die Tonspuren – unter anderem von Sandkörnern – zu reinigen. Dann wurden sie digitalisiert, schließlich restauriert.

Flores hörte sich zuerst allein, dann mit seinem Mitarbeiter Adrien Bailly durch den Prozess durch. Anderthalb Jahre brauchten sie für zehn Monate Prozessdauer.Das spezialisierte Tonunternehmen hatte den Auftrag vom Internationalen Gerichtshof in Den Haag erhalten. Diese Uno-Institution – nicht mit dem Internationalen Strafgericht zu verwechseln – hatte die Tonaufnahmen des Nürnberger Prozesses jahrzehntelang archiviert.

Vor einem Jahrzehnt startete der Gerichtshof einen ersten Anlauf zur Überführung – und damit Bewahrung – auf digitale Datenträger. Er prüfte zuerst ein Schweizer Verfahren namens "visual audio", bei dem die Tonspuren auf den Lackplatten fotografisch digitalisiert werden. Die Pläne zerschlugen sich aber aus technischen wie finanziellen Gründen.

Beglaubigter Inhalt gegen verfälsche Versionen

2016 erhielt das französische Unternehmen Gecko den Zuschlag für die Digitalisierung, die das Holocaust-Memorial und – Museum in Washington (USHMM) und das Mémorial der Shoah in Paris finanziert. Damit begann die Ameisenarbeit für den branchenweit renommierten 20-Mann-Betrieb. "Angesichts der historischen Bedeutung war höchste Sorgfalt geboten", meint Flores. "Wir hörten die ganz Aufnahme durch, wie wir es immer tun. Das hat neben der eigentlichen Digitalisierung zwei Vorteile: Wir konnten Knack- und andere Störgeräusche eins ums andere eliminieren. Und wir können den ganzen Inhalt beglaubigen. Das hilft, in Zukunft Manipulationen und 'gefakte' Versionen zu verhindern."

Einige der Hauptangeklagten des Nürnberger Kriegsverbrecherprozesses: Hermann Göring, Rudolf Heß, Joachim von Ribbentrop, Wilhelm Keitel und Ernst Kaltenbrunner (erste Reihe, von links). Dahinter: Karl Dönitz, Erich Raeder, Baldur von Schirach und Fritz Sauckel.
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Was ebenfalls half: Flores spricht Englisch, Französisch und Deutsch. Nur die vierte Prozesssprache Russischen beherrscht er nicht. Abgesehen davon hörte er die ganzen Gerichtsverhandlungen mit – vielleicht als erster Mensch überhaupt. Der Pariser Nichthistoriker ist zu bescheiden, um dies auch nur zu erwähnen.

Detailliert führt er hingegen aus, wie fehlerhaft und lückenanfällig die bisherigen Dokumente über den Nürnberger Hauptprozess (November 1945 bis Oktober 1946) waren. Die Filmaufnahmen decken nur einen kleinen Bruchteil des Verfahrens ab. Erhaltene Tonspuren der BBC sind womöglich unvollständig, jedenfalls nicht öffentlich zugänglich. Und das Schriftprotokoll war nicht immer "verbatim", also wortwörtlich, wie Flores festgestellt hat: "Die Mehrfach- und Simultan-Übersetzung war ein Novum. Und die Dolmetscher leisteten eine gewaltige Arbeit, aber sie waren nicht alle Profiübersetzer und bald einmal erschöpft." Das übertrug sich auf die Arbeit der Stenographisten, die sich für ihre Notizen überdies teils mit Liveübersetzungen behelfen mussten. Häufig fassten sie Aussagen zusammen, statt sie wörtlich zu notieren.

Differenzen zwischen Text und Audioaufnahmen

Bei Stichproben fiel Flores zu seinem Erstaunen auf, dass einzelne Passagen im Schriftprotokoll verkürzt wurden oder ganz fehlten, wenn man mit dem Tondokument vergleicht. Mit Rücksicht auf die Anstandsnormen jener Zeit fielen Flüche, Bordellbesuche oder Folterungen im KZ meist durch. Der Herausgeber des Hetzblattes "Der Stürmer", Julius Streicher, beklagte sich zudem vor Gericht, er sei in amerikanischer Haft malträtiert worden und habe "die Füße von Negern küssen" müssen. In der Niederschrift des Prozesses fehlt der Passus. Das wird zwar in einer Fußnote eingestanden; Neonazis basteln aber daraus gerne eine Komplottheorien gegen die angebliche 'Siegerjustiz'.

Flores widerspricht ihnen: "Schaut man sich die Auslassungen an, dann geht klar daraus hervor, dass sie nicht mit Absicht geschahen, sondern aus Überforderung oder Überlegung." Das Gericht wollte verhindern, dass der Prozess durch Formanträge der Verteidigung gebremst oder gar blockiert wurde. Streichers Vorwürfe hätten möglicherweise eine Disziplinaruntersuchung in der US-Armee erforderlich gemacht, wenn das Gericht darauf eingegangen wäre. Gegenüber dem millionenfachen Massenmord der Nazis war es eine Bagatelle.

Emiliano Flores, Tonmeister des französischen Unternehmens Gecko, musste sich durch annähernd 1.000 Stunden Audioaufnahmen des Nürnberger Kriegsverbrecherprozesses durchhören.
Foto: Stefan Brändle

In dem digitalisierten Tonprotokoll ist der Streicher-Passus nun enthalten. Es enthält alles, was an dem Prozess akustisch registrierbar war. Das ist auch den damaligen Toningenieuren zu verdanken. Ein Schwarzweißfoto an der Wand des Gecko-Tonstudios zeigt, dass sie im Gerichtsgebäude von Nürnberg gleich vier Plattenspieler gleichzeitig unterhielten. Sie setzten die Plattenspieler paarweise ein, so dass während des Wechsels der Lackscheiben aller Viertelstunde keine Lücken entstanden. Um weitere Aussetzer zu vermeiden, nahmen sie den Prozess zudem doppelt auf.

Kurz, das Tonprotokoll ist einiges genauer als das Schriftprotokoll. Das ist wichtig für Historiker und Juristen, die den "Prozess der Prozesse" aufarbeiten wollen. Enthalten ist er nun auf einer Computerfestplatte. Gecko hat sie diese Woche dem Uno-Gerichtshof in Den Haag in aller Diskretion ausgehändigt. Die hunderten von Schallplatten, derzeit in maßgefertigten Kühlkisten gelagert, werden ebenfalls in die Niederlande zurückgebracht. Das Uno-Gericht äußert sich vorerst nicht zur Frage, wann die Tonversion allgemein zugänglich wird.

Belastende Aufgabe

Für Emiliano Flores, der weder Historiker ist noch eine spezielle Affinität zu Rechtsfragen oder dem Zweiten Weltkrieg hat, geht eine lange Zeit intensivster Beschäftigung mit dem Thema zu Ende. Hart war die Soloarbeit zu Beginn. "Ich muss sagen", seufzt Flores, "wenn man per Kopfhörer die genauen Schilderungen eines norwegischen Gestapo-Opfers hört – nicht: liest – , der immer wieder bis zur Bewusstlosigkeit gefoltert wurde; oder wenn die Erschießung polnischer Kinder am Rande von Massengräbern geschildert wird – dann würde man schon gerne mit jemandem darüber sprechen können."

Mit der Zeit erhielt Flores tatkräftige Unterstützung durch seinen Kollegen Bailly. Zusammen restaurierten sie die tausend Stunden Prozessdauer. Jedes Geräusch, jedes Knacken wurde gekennzeichnet und eliminiert, wenn es etwa durch ein Nadelspringen oder einen Plattenwechsel bedingt war.

Die Tonaufnahmen der Nürnberger Prozesse wurden großteils auf doppelt bespielten Lackplatten konserviert. Jede Seite dieser Platten enthält 15 bis 17 Minuten Tonmaterial, mono und mit 33 Umdrehungen pro Minute aufgenommen.
Foto: Stefan Brändle

Es war eine mühselige Arbeit, aber eine "für die Ewigkeit", bemerkt Flores. "Unsere Version wird womöglich noch über Jahrhunderte als Grundlage dienen. Wir haben alles dokumentiert, analysiert und in Hyperlinks erklärt." Bis hin zu Musikklängen im Hintergrund. Das waren keine Lauschangriffe von Hackern, fand Flores heraus, sondern Interferenzen durch andere Radiostationen; sie gelangten durch das damals sehr instabile Stromnetz im zerstörten Nürnberg bis in das Aufnahmedispositiv des Prozesses.

Deep fake ist heute überall denkbar

Auch wenn digitale Versionen viele Vorteile aufweisen: Sind sie nicht anfällig für Manipulationen und Fake News? "Wir liefern eine gesicherte Grundlage. Sie ist bis in jeden gesprochenen Satz authentifiziert und dank dem so genannten Prüfsummen-Verfahren fälschungssicher", meint Flores. "Doch was damit gemacht wird, können wir nicht mehr kontrollieren. Deep fake ist heute überall denkbar."

Gerade deshalb sei es so wichtig, eine wissenschaftliche Digitalversion zu schaffen, die insgesamt und bis in den Details "beglaubigt" sei, meint Flores. 1946 sei es darum gegangen, zuerst einmal "Worte für die Schandtaten der Nazis zu finden, die Dinge zu benennen"; heute sei es ein Anliegen, eine unumstößliche Digitalversion zu schaffen, gegen die Fälscher, Leugner und Verdreher machtlos seien.

Ähnlich erfolglos hätten die Nazi-Schergen in Nürnberg alles abgestritten, meint Flores, der nach der Gesamtanhörung große Stücke auf den britischen Ankläger Maxwell Fyfe hält. Er habe das Argument der Nazis entlarvt, "nichts gewusst" zu haben, und dann aufgrund der Zeugenaussagen das Folgeargument, sie hätten "nie gedacht", dass es Vernichtungslager geben könnte. Zum Schluss habe Fyve die Wahrheit durchgesetzt, weshalb die meisten Kriegsverbrecher ihrer Strafe nicht entgangen seien.

Jetzt, über 70 Jahre später, will die erste Digitalversion des wichtigsten Kriegsverbrecherprozesses ihrerseits dazu beitragen, dass die Welt alles weiß und bewahrt. Und dass niemand mehr bestreiten kann, was damals geschehen ist. (Stefan Brändle, 14.9.2049)