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"Umfragen sind der Versuch, politische Präferenzen zu vermessen, und das ist ein mit Unsicherheiten verbundener Prozess." Laurenz Ennser-Jedenastik

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Könnte man das Wahlergebnis genau voraussagen, dann könnte man sich die Wahlen ersparen. "Aber das ist natürlich Unsinn", sagt David Pfarrhofer vom Linzer Market-Institut.

Dieses erhebt seit 27 Jahren für den STANDARD die politische Stimmung im Land und rechnet hoch, welche Partei mit welchen Wähleranteilen zu rechnen hätte. Wahlen sind für die Meinungsforscher die Probe aufs Exempel: Sollte die SPÖ die Nationalratswahl am 29. September entgegen allen Prognosen gewinnen, dann wären alle Modelle der Wahlforscher erschüttert.

Denn in ihren Rechenmodellen ist die Volkspartei seit dem Mai 2017 – damals hat Sebastian Kurz die Parteiführung übernommen – in allen bundesweiten Umfragen vorne gelegen.

Das Market-Institut rechnete damals mit 32 Prozent für die mehr oder weniger "neue ÖVP", später wies es auch 33 Prozent aus, geworden sind es 31,5. Die anderen Meinungsforscher lieferten ähnlich genaue Ergebnisse, wobei die ÖVP meist leicht überschätzt, die SPÖ ebenso leicht unterschätzt worden ist.

Zwei Jahre später ist das Bild ähnlich: Die SPÖ liegt in den Umfragen aller Institute klar hinter der ÖVP – und die FPÖ knapp dahinter, vielleicht auch gleichauf.

Wie aber kommen die Meinungsforscher darauf? Grundlage aller dieser Aussagen sind Umfragen, in denen die Befragten möglichst repräsentativ die Grundgesamtheit der Wahlberechtigten darstellen. Puristen der Statistik gehen vom Idealbild aus, dass jeder Befragte zufällig ausgewählt sein muss – dann würden ein paar hundert Befragte ein gutes Abbild der Gesellschaft darstellen.

Nicht jeder antwortet

Pfarrhofer: "Da hat jeder die gleiche Chance, seine Meinung kundzutun – aber leider nimmt nicht jeder diese Chance in gleicher Weise wahr." Daher wird die Stichprobe nach dem Quotaverfahren ergänzt. Sind etwa zu wenige Arbeiter in der Stichprobe vertreten, werden gezielt zusätzliche Arbeiter angesprochen.

Und es wird eine ganze Reihe von Fragen gestellt. Es beginnt mit der sogenannten "Sonntagsfrage 1", in der gefragt wird, wen man am Sonntag wählen würde. Die "Sonntagsfrage 2" geht an jene, die sich da nicht deklariert haben – sie werden gefragt, welche Partei am ehesten infrage käme.

Ebenso geht es mit der Kanzlerfrage ("Denken Sie nun an die Personen an den Parteispitzen; wenn Sie den österreichischen Bundeskanzler direkt wählen könnten, für wen würden Sie sich entscheiden?"), wo ebenfalls nachgefragt wird. Online ist die Antwortbereitschaft übrigens höher als bei Telefonbefragungen.

Dann wird noch erhoben, welche Partei die Befragten bei der vorigen Wahl gewählt haben – was nicht unbedingt mit dem Wahlergebnis übereinstimmt: So geben derzeit sechs Prozent an, vor zwei Jahren grün gewählt zu haben – tatsächlich waren es nur 3,8. Und nur 23 Prozent (statt 27 Prozent bei der Wahl) geben an, SPÖ gewählt zu haben.

Das könnte darauf hindeuten, dass die Stichprobe zu viele Grüne und zu wenige Sozialdemokraten enthält. Aus langjähriger Erfahrung kennt Pfarrhofer diese Muster: "Nicht alle Menschen sind so hochpolitisch, dass sie genau wissen, wen sie 2017 gewählt haben. Da war ja noch die EU-Wahl dazwischen, manche denken bei der letzten Wahl daran – oder sie haben es schlicht vergessen. Und wenn Grün eine politische Modefarbe ist, denkt man vielleicht auch eher an die Grünen als noch vor wenigen Monaten."

Gerade für die Grünen gilt: Vor zwei Jahren gab es eine Wahlkampagne der SPÖ, man möge Christian Kern wählen, um eine Regierung Kurz/Strache zu verhindern.

Dies hat vor allem im ursprünglich grünen Milieu gegriffen und auch zur erwähnten Unterschätzung der SPÖ in den Umfragen vor der Wahl geführt.

Bandwagons und Underdogs

Hier setzen Kritiker von Wahlumfragen häufig an: Wenn vor der Wahl der Eindruck entsteht, dass eine Partei es schaffen könnte, die andere einzuholen, könnten Wähler beeinflusst werden und würden dieser vielleicht zusätzliche Wähler zulaufen.

Wahlforscher sprechen von zwei gegenläufigen Effekten, die aus der amerikanischen Szene kommen: Da gibt es einerseits den Bandwagon-Effekt, der Wähler zu jener Partei strömen lässt, die vermeintlich besonders stark ist.

Das Gegengewicht dazu ist der Underdog-Effekt, der jenen zugutekommt, die in Umfragen schwächeln – aus Mitleid oder aus einem Gefühl für Ausgleich wollen dann manche Wähler genau diese Parteien stärken. Wieder am Beispiel der Grünen betrachtet: 2017 sind ihnen Wähler zur SPÖ davongelaufen, weil diese den Bandwagon für das linke Lager nutzte. Und die Grünen haben damals verabsäumt, den Underdog zu spielen.

Im rechten Lager konnte die ÖVP damals wie heute den Bandwagon-Effekt bedienen. Das zeigt sich etwa, wenn den 696 Befragten, die zuletzt in der Sonntagsfrage 1 oder 2 eine Präferenz angegeben haben, folgende Frage gestellt wird: "Und neben der von Ihnen gewählten Partei – welche Partei wäre Ihre zweite Wahl?" Da kommt die ÖVP auf 17 Prozent, wobei gut die Hälfte der erklärten FPÖ-Wähler die ÖVP nennt.

Umgekehrt nennt jeder zweite ÖVP-Wähler die Neos als "zweite Wahl". Aber nur etwa jeder fünfte ÖVP-Wähler denkt daran, allenfalls die Freiheitlichen zu wählen. Die Neos werden damit zu jener Partei, die am häufigsten als Alternative gesehen wird. Das könnte sich für sie auszahlen, wenn viele ÖVP-Wähler davon ausgehen, dass "ihre" Partei ohnehin gewinnt. Da könnten türkise Sympathisanten ihre Liebe zu Pink erkennen und abtrünnig werden.

Auch das ist ein möglicher Effekt der Veröffentlichung von Wahlergebnissen. Market-Wahlforscher Pfarrhofer dazu: "Wir ziehen in Betracht, wer mehr oder weniger sicher wählen geht – es ist zwar schön für die Grünen, wenn jemand sagt, dass er sie wählen würde; es hilft ihnen aber nicht, wenn er gar nicht wählen geht."

Die Beurteilung und Gewichtung spielt daher bei der Interpretation von Rohdaten eine wichtige Rolle. Market rechnet sie nach mehreren Modellen hoch – unter Einbeziehung unterschiedlicher Begleitfragen. Nimmt man etwa die Rohdaten der ÖVP, der zuletzt 23 Prozent in der Sonntagsfrage 1 und weitere zwei Prozent in der Sonntagsfrage 2 ihre Stimme zugesagt haben, und nimmt eine Wahlbeteiligung von 75 Prozent an, so kommt man ziemlich genau auf die in der Hochrechnung ausgewiesenen 34 Prozent der ÖVP.

Hochrechnung und Schätzung

Würde man dieselbe Methode auf die Grünen anwenden – 15 Prozent aus der Summe von Sonntagsfrage 1 und 2 -, so käme man auf unglaubliche 20 Prozent. Diese sind tatsächlich derartig unglaublich, dass man eben weitere Fragen wie jene nach der Kanzlerpräferenz, der Sicherheit der Wahlentscheidung oder der zweitwichtigsten Partei miteinfließen lässt.

Deswegen sei es auch "Unsinn", bei Wahlhochrechnungen durch die Angabe von statistischen Schwankungsbreiten Sicherheiten vorzutäuschen, die es in Wahrheit gar nicht geben kann. Zusätzlich zu den stichprobenbedingten Abweichungen müsse man auch in Betracht ziehen, dass sich der Hochrechner einfach verschätzt haben könnte. Aber das ist vor allem Erfahrungssache.

Eine andere Fehlerquelle kann er aber weitestgehend ausschließen: "Wir können inzwischen vertrauen, dass die Leute uns nicht anlügen. So ganz anders als sie angeben, wählen sie wohl nicht – aber vielleicht sind sie heute sicher, Grün zu wählen, überlegen es sich aber bis zum Wahltag."

Dass jemand gesagt hat, er wisse nicht, wen er wählen wolle, aber tatsächlich festgelegt war, sei vor allem in den 1990er-Jahren ein Problem gewesen, als sich viele Befragte nicht dazu bekennen wollten, dass sie Wähler der FPÖ waren: "Sich damals als FPÖ-Wähler zu outen war sozial verpönt, da haben die Leute lieber gesagt, dass sie gar nicht wählen würden", erinnert sich Pfarrhofer.

Damals wurde in den Fragebögen ein Set von erwünschten Wahlfolgen eingebaut, darunter der Punkt "dass die FPÖ stark zulegt und zur meistbeachteten Partei dieser Wahl wird". Dem zuzustimmen fiel nicht bekennerfreudigen Freiheitlichen dann leichter. Tatsächlich stimmte das Ergebnis der FPÖ bei den Wahlen dann weitgehend mit den Antworten auf diese Frage überein.

Aussagekraft von Umfragen

Wie aussagekräftig sind also Wahlumfragen in Österreich? Der Politikwissenschafter und Statistikexperte Laurenz Ennser-Jedenastik hat auf die Frage zwei Antworten: Die eine lautet, dass Umfragen über die vergangenen zwanzig Jahre für Nationalratswahlen akkurat waren. Er hat sich die Mittelwerte für alle Parteien angesehen, die sich aus vier Wochen vor der Wahl veröffentlichten Umfragen ergeben.

Diese Werte hat er mit den Ergebnissen für die Partei verglichen. Im Durchschnitt liegt die Abweichung bei nicht mehr als ein bis zwei Prozentpunkten. 2006 war ein Ausnahmefall, als die ÖVP in Umfragen bis zum Schluss klar vor der SPÖ lag, dann aber um mehr als drei Prozentpunkte schlechter abschnitt als prognostiziert. Weil die SPÖ etwas besser abschnitt, kam sie auf Platz eins.

Das führt zur zweiten Antwort von Ennser-Jedenastik über die Qualität von Politbefragungen: Klar sollte sein, dass Umfragen "der Versuch sind, politische Präferenzen zu messen. Dieser Prozess ist nunmal mit Unsicherheiten verbunden." Wenn die ÖVP am Wahltag irgendwo zwischen 32 und 38 Prozent landet, würde das den Statistiker nicht überraschen. Nachsatz: Wenn bei allen Parteien derartige Abweichungen zu den Umfragen aufträten, wäre etwas an den Modellen falsch.

Bei anderen Wahlen als der zum Nationalrat lagen Meinungsforscher immer wieder daneben. Im ersten Durchgang der Präsidentschaftswahlen 2016 wurden vier Wochen vor der Wahl für Norbert Hofer 24 Prozent vorausgesagt – er machte 35 Prozent. Van der Bellen schnitt um sechs Prozentpunkte schlechter ab als prognostiziert – und ist heute Präsident.(Conrad Seidl, András Szigetvari, 14.9.2019)