Kinder an die Macht: Für Neos-Chefin Beate Meinl-Reisinger ist Bildung ein Zukunftsthema. Im Wahlkampf diskutiert sie mit Schülerinnen über Mobbing an Schulen und darüber, was sie dagegen tun will.

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Wochenlang haben STANDARD-Reporter die Wahlkämpfer beobachtet und Bemerkenswertes aufgeschrieben. Lesen Sie die ersten zwei Teile unserer Langzeit-Beobachtungen der Kandidaten im Wahlkampf.

Ihre Augen verengen sich. Sie kräuselt die Stirn und atmet tief ein. Beate Meinl-Reisinger ist bereit für den Angriff. Neoliberal wird sie genannt, wieder einmal. Ein Unwort für die Neos-Chefin.

Eine Passantin in der Wiener Innenstadt erklärt ihr, die Partei habe zwar gute Ansätze, aber sie sei ihr zu wirtschaftslastig. Die pinke Frontfrau beginnt, mit ihr zu diskutieren. "Was mich ehrlich trifft, ist, wenn mir soziale Kälte vorgeworfen wird", erklärt sie.

Zweieinhalb Wochen sind es noch bis zur Wahl. Die 41-jährige Neos-Chefin tingelte in den Sommermonaten durch Österreich. Sie debattierte mit Entscheidungsträgern über Digitalisierung in den Tiroler Bergen, dirigierte eine Trachtenkapelle zu Helene Fischers Schlager Atemlos beim Ausseer Kirtag und imitierte den Lindwurm in Klagenfurt – alles auf Instagram verewigt. Der Wahlkampf soll nach Spaß aussehen.

Es ist das dritte Antreten der Neos bei einer Nationalratswahl, Meinl-Reisinger ist zum ersten Mal Spitzenkandidatin. Die Ausgangslage ist gut. Obwohl die Partei 2017 fünf Prozent erreichte, zweifelt dieses Mal kaum jemand daran, dass sie es in den Nationalrat schaffen könnten.

Die finalen Wochen vor der Wahl am 29. September werden allerdings in den TV-Studios bestritten. Die pinke Frontfrau hat kaum noch Zeit, zu den Menschen zu gehen, wie der Straßenwahlkampf im Politikerjargon heißt. Fast jeden Abend ist sie in einem anderen TV-Studio. Wie ein Zirkus ist das für sie, nur mit Politikern in der Manege.

Dass Meinl-Reisinger, kaum ein Jahr nachdem sie die Partei von Matthias Strolz übernommen hat, die Neos in einen Wahlkampf führen muss, kam überraschend. Überhaupt war es ein turbulentes Jahr für die Juristin. Im Herbst wurde sie nicht nur im Parlament angelobt, sie gab auch bekannt, dass sie ihr drittes Kind erwartet.

Die jüngste Tochter war keine sieben Wochen alt, als das Ibiza-Video veröffentlicht wurde. Bis dahin interessierten Wahlkampfkostenüberschreitungen und Parteienfinanzierung bestenfalls die politische Blase. Wenn aber Ex-FPÖ-Chef Heinz-Christian Strache und der frühere blaue Klubchef Johann Gudenus darüber fantasieren, wie sie mithilfe einer vermeintlichen russischen Oligarchin die Partei querfinanzieren könnten, bekommt das spröde und seelenlose Kernthema der Neos plötzlich die notwendige Dosis Drama, um auch am Stammtisch debattiert zu werden.

Steilvorlage Ibiza

Es ist eine Steilvorlage für Meinl-Reisinger, ein Grund dafür, warum der Wahlkampf für sie nicht erst im Sommer, sondern bereits mit der Veröffentlichung des Videos begonnen hat. Immerhin legen die Neos seit ihrer Gründung ihre Einnahmen und Ausgaben bis ins kleinste Detail auf ihrer Website offen. Das fordern sie auch von anderen Parteien – bisher erfolglos.

Für das von Rot-Blau paktierte neue Parteienfinanzierungsgesetz gab es von ihr vernichtende Kritik. Es mache Ibiza nur legal. Als dann Sebastian Kurz erklärte: "Wir und die Neos wollten volle Transparenz", platzte Meinl-Reisinger der Kragen. "Das ist falsch, nachweislich falsch", sagte sie in einem spätnachts geposteten Video. Von der ÖVP will sie sich bei diesem Thema ganz bestimmt nicht vereinnahmen lassen.

Dabei ist es für sie eine Gratwanderung. Natürlich wollen sie endlich mitspielen und auch für eine Regierung in Betracht gezogen werden. Doch gleichzeitig heißt es auch: Stirn bieten und bloß nicht zu sehr an den Türkisen anstreifen.

Am Ibiza-Wochenende zögerte die Juristin nicht und begab sich gleich zu den Demonstranten auf dem Ballhausplatz. Zwar war sie die Erste, die Neuwahlen forderte, aber sie war auch die Erste und einzige außerhalb der ÖVP, die einen Misstrauensantrag gegen die verbliebene Regierung Kurz ablehnte. Das dürfte auch in der Partei zu heftigen Diskussionen geführt haben. Viele Beobachter empfanden das als Schonung für Noch-Kanzler Kurz.

Kritisch und konstruktiv

Die Neos verstehen sich als kritische und konstruktive Opposition. Das ist wahrscheinlich die wichtigste Erzählung im pinken Wahlkampf. "Opposition ist Mist", sagte einst der deutsche Sozialdemokrat Franz Müntefering. Das sieht Meinl-Reisinger anders, und sie muss es wissen. Immerhin war sie knapp drei Jahre im Wiener Gemeinderat auf Fundamentalopposition gebürstet.

Damals schoss sie sich mit Elan auf den früheren Bürgermeister Michael Häupl und das rote Wien ein und inszenierte ein David-gegen-Goliath-Duell. Diese Angriffslust ist heute nicht mehr ihr Antrieb, wobei sie auch aus ihrer Abneigung gegen die Freiheitlichen kein Geheimnis macht. Diese ist bei Konfrontationen mit FPÖ-Spitzen schon an ihrer Körperhaltung ablesbar.

Dennoch wollte die dreifache Mutter nicht nur jeden früheren Regierungsvorschlag verreißen, sondern Alternativen aufzeigen. So geschehen beim leidigen Thema Kopftuchverbot für Schülerinnen, als Pink mit einem umfangreichen Konzept vorpreschte, um Integration und den Umgang mit Religion in der Schule zu thematisieren und nicht bloß Musliminnen zu stigmatisieren.

Ihre direkte Art kommt aber nicht bei allen Zusehern gut an, in TV-Duellen nimmt sich Beate Meinl-Reisinger (rechts) jetzt deshalb mehr zurück.
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Passt zu diesem Vorgehen das Nein zum Misstrauensantrag? Es war jedenfalls nicht notwendig. So sehr sich die Neos auch auf türkis-blaue Showpolitik eingeschossen hatten, diese Regierung hat ihnen geholfen, ihr Profil zu schärfen. Liefen sie 2017 noch Gefahr, im Dreikampf zwischen Kurz, Kern und Strache aufgerieben zu werden, können sie heute ihre Botschaften genauer platzieren.

Und jene Bürgerlichen, die sich vor zwei Jahren der Hoffnung hingaben, die neue ÖVP brächte endlich Erneuerung ins Land, könnten dieses Mal reumütig zurückkehren. Es ist der erste Wahlkampf seit langem, in dem Migration nur eine untergeordnete Rolle spielt. Überhaupt, es fehlt die angstgetriebene Land-unter-Stimmung. Ein Vorteil für Pink, es gelingt ihnen, ihre Anliegen Bildung, Pensionen und Entlastung als Zukunftsthemen unterzubringen.

Diesen Unterschied zur ÖVP betonen die Neos gerne. Es ist die zweite Geschichte, die sie erzählen wollen. Hauptdarsteller ist Helmut Brandstätter. Der ehemalige Kurier-Chefredakteur ist Listenzweiter. In einem Buch beschreibt er die Machtgelüste von Ex-Innenminister Herbert Kickl (FPÖ) und Ex-Kanzler Kurz. Es ist die Erzählung des enttäuschten Bürgerlichen, der zeigen will, wie skrupellos die neue ÖVP ist und wie verschwindend gering die Unterschiede zur FPÖ sind.

Brandstätter hat eine Wildcard bekommen – das ist unüblich bei den Neos. Das Votum im erweiterten Vorstand war dann zwar einstimmig, aber von intensiven Diskussionen begleitet. Nicht alle waren überzeugt, dass der 64-Jährige ein Neos-Zugpferd sein kann. Aber: Die Chefin wollte das, und wenn sie sich etwas in den Kopf setzt, ist sie kaum davon abzubringen.

Rollenwechsel

Meinl-Reisinger hat gerne die Zügel in der Hand. Sie ist selbstsicher, aber schnell verärgert, wenn sie sich unverstanden fühlt. Sie lacht viel und laut, hat eine rasche Auffassungsgabe, aber belehrt häufig ihre Mitstreiter. Ein Nein akzeptiert sie nur, wenn es gut begründet ist. Gerne stellt sie Gegenfragen, auch an Journalisten. Und sie möchte in alle Entscheidungen miteingebunden sein. Schon früh drängte sie darauf, ihr Klimakonzept nachzuschärfen.

Die Vollblutpolitikerin liebt die Diskussion, man könnte sogar sagen, sie suche den Streit. Einlenken ist nicht ihre Sache. Das Sommergespräch mit Tobias Pötzelsberger plätscherte dahin, bis Meinl-Reisinger und der Moderator unterschiedliche Rechnungen über die Auswirkungen der CO2-Steuer nach dem pinken Modell erläuterten. Für den Zuseher verwirrend, die Neos-Chefin konnte trotzdem nicht heruntersteigen. Das passiert ihr öfters, vor allem wenn keine Kameras mitlaufen.

Dass ihr forscher Diskussionsstil bei den Wählern nicht immer gut ankommt, war Thema während der Vorbereitungen für die laufenden TV-Duelle. Besondere Herausforderung: die weichgespülte Rhetorik von Norbert Hofer. Meinl-Reisinger probierte einen Strategiewechsel. Ein Mitarbeiter schlüpfte in die Rolle des FPÖ-Chefs. Trockentraining, damit sie sich keinesfalls aus der Reserve locken lässt. Das Rollenspiel ging auf.

Selten argumentierte die Neos-Chefin so kontrolliert und zielsicher. Für das nächste Duell mit Pamela Rendi-Wagner spielt die niederösterreichische Landeschefin Indra Collini die rote Spitzenkandidatin. Nach dem ersten Zusammentreffen der beiden Parteichefinnen war die Neos-Frontfrau ungewohnt selbstkritisch.

Ob Meinl-Reisinger vor jubelnden Neos-Fans spricht, auf der Straße Passanten den pinken Weg nahelegt oder im TV-Studio sitzt, sie wirkt authentisch, spricht in kurzen Sätzen und ist schlagfertig. Sie verknüpft persönliche Geschichten mit politischen Botschaften und pflegt ein Image als Macherin, die pragmatisch denkt und auch so handelt. Auch wenn die Neos-Chefin der Koalitionsfrage immer ausweichen will, sie setzt alles daran, sich als Alternative in Stellung zu bringen.

Das nächste TV-Duell steht an. Wenn sie die Stirn in Falten legt, kann sich ihr Gegenüber auf etwas gefasst machen. (Marie-Theres Egyed, 14.9.2019)