Familienzusammenführung in Jerusalem: Wahida (Deleila Piasko, li), Eitan (Jan Bülow, liegend) und Wazzan (Yousef Sweid, hinten stehend).

Matthias Horn

Auf Ulrich Rasches formal herausfordernde Bakchen ließ Martin Kušej zum Saisonstart am Akademietheater das als Stück der Stunde gehandelte, von kulturellen Differenzen erzählende Familiendrama Vögel des frankokanadisch-libanesischen Autors Wajdi Mouawad folgen. Damit hat der Intendant das ihm vorschwebende Spektrum möglicher Theatersprachen zu Beginn seiner Amtszeit schon einmal weit abgesteckt: auf ästhetische Radikalität folgt psychologischer Realismus.

Die Familiensaga Vögel ist gewiss ein programmatischer Coup, auch wenn die Wiener Inszenierung lediglich im Windschatten der Stuttgarter Premiere im Vorjahr daherkommt. Der dortige Theaterleiter Burkhard C. Kosminski hatte sich die Erstaufführungsrechte im deutschsprachigen Raum gesichert. Vögel wird nun – wie vor Jahren schon Mouawads Erfolgsstück Verbrennungen (Akademietheater 2007) – die Bühnen erobern. Allein in Österreich zieht im Jänner das Schauspielhaus Graz, im Februar das Schauspielhaus Salzburg mit Neuinszenierungen nach.

Vier Sprachen im Stück

Es geht um eine Romeo-und-Julia-Geschichte vor dem Hintergrund des Nahostkonflikts. Aber noch um mehr: Vögel verhandelt viele Fragen, die den gesellschaftspolitischen Diskurs nach 9/11 prägen: Wie wichtig sind nationale, kulturelle und religiöse Identitäten? Wie weit kann oder soll man sich von ihnen lösen? Kann man multiple Kulturen in sich vereinen? Damit will sich auch das Theater befassen, und es kann mit einem Stück wie diesem seine Ansprüche auf Diversität gut einlösen: Vögel ist viersprachig, das Ensemble so bunt gemischt, wie es am Burgtheater noch nicht der Fall war.

Mouawad spiegelt seine auf drei Kontinenten angesiedelte Tragödie in der Geschiche eines arabischen Diplomaten Anfang des 16. Jahrhunderts, Muhammed al-Wazzan, genannt Leo Africanus. Als zwangschristianisierter Gelehrter steht diese Figur beispielhaft für die Zerreißprobe zwischen muslimisch-arabischer und christlich-europäischer Welt. Im Stück ist Leo Africanus Forschungsgegenstand der Dissertation von Wahida, einer arabischstämmigen Studentin in New York, die sich fragt, ob Menschen ihre Wurzeln tatsächlich kappen können. In der Universitätsbibliothek trifft Wahida auf den Berliner Genetiker Eitan, der nichts von vererbter Schuld hält und dessen Familie jüdisch ist – das Drama kann beginnen.

Illustrationskitsch

Eitans Eltern lehnen eine Verbindung ihres Sohnes mit Wahida strikt ab. Ein Jude müsse jüdische Kinder zeugen. Forciert bornierte Standpunkte wie diesen gibt es im Stück viele; es wird praktisch nur gestritten. Das Gespräch eskaliert an einer Pessachtafel, die wie alle anderen Szenen im Akademietheater – Krankenhaus, Wohnzimmer, Grenzkontrolle etc. -schnörkellos zwischen verschiebbaren Leinwänden aufgebaut ist (Bühne: Florian Etti).

Die Leinwände dienen als mobile Übertitelungsflächen (für Hebräisch, Englisch und Arabisch), aber auch für hemmungslosen Illustrationskitsch (Buchstabenregen in der Bibliotheksszene). Da lässt es Itay Tirans Inszenierung richtig stadttheatern. Nicht der ästhetische Zugriff zählt, sondern der Stückinhalt, die Verteidigung verhärteter Fronten.

Tiran, der in der Stuttgarter Inszenierung übrigens die Rolle des jüdischen Vaters spielte, ist neu im Burgtheater-Ensemble. In Israel ist der 39-Jährige ein gefeierter Theater- und Fernsehstar. Das gut geölte Konversationsdrama hat er handwerklich im Griff, plotgetreu schnurren die markigen Dialoge ab, besonders dann, wenn alle Familienmitglieder infolge eines Anschlags in Jerusalem aufeinandertreffen: Wahida (Deleila Piasko) und Eitan (Jan Bülow), die Eltern (Markus Scheumann, Sabine Haupt), Oma (Salwa Nakkara) und Opa (Eli Gorenstein).

Nahostkonflikt

Tiran forciert die zugespitzten Standpunkte und kocht den Familienzwist von Anfang an auf heißer Flamme, sodass die Figuren und ihr Leid zu Typen verkommen, denen man befremdet zuguckt: Eitan als ungewaschener Berliner Schlurfi; Wahida als sexy Assimilierte, die am Ende aber ihre arabische Erleuchtung erfährt und zu ihren "Schwestern" und "Müttern" nach Ramallah geht; Vater David als jüdischer Fundi; Oma Leah als vom Leben gezeichneter, grober Sturschädel und Opa Etgar, der sich die Vergangenheit und den Holocaust mit schwarzen Witzen vom Leib hält.

Dem Pathos und der Überkonstruiertheit des Stücks weicht Tiran nicht aus, im Gegenteil, er wirft sich voller Verve in die Grabenkämpfe des Nahostkonflikts und schärft die dem Stück eingeschriebene appelative Pädagogik: Vertragt euch doch! Da kann das europäische Publikum nur zustimmen. Der jüdisch-arabische Konflikt, wie es Schauspieler Yousef Sweid im Programmheft sagt, ist in Europa eben "hip" geworden. Auch im Akademietheater gab es stehende Ovationen. Man kann sich bei diesem Stück hervorragend der eigenen Aufgeklärtheit versichern. (Margarete Affenzeller, 14.9.2019)