Wenn man im Standard-Forum die Reaktionen auf die chaotischen Geschehnisse in Großbritannien durchpflügt, so findet sich zweierlei. Zum einen viel Spott über den britischen Premierminister Boris Johnson, zum anderen über das britische Volk. Letzteres beinhaltet natürlich nationale Ressentiments. Was ich etwas seltsam finde. Man spottet über die britischen Nationalisten und tut dies selbst mit nationalistischen Ressentiments und Verallgemeinerungen. „Die“ Briten, heißt es da immer wieder höhnisch. „Geht doch nur endlich!“

Beide Reaktionsweisen sind jedoch Ausdruck der allgemeinen Verflachung des politischen Diskurses, der dadurch im Endeffekt natürlich gar nicht mehr politisch ist, sondern unpolitisch bleibt. Man findet gerne Dummköpfe und Bösewichter, die schuld an allem sind, sei es in Form von Kollektivbegriffen wie den Briten, den Russen oder den Moslems, sei es in Gestalt einzelner Personen wie Trump, Johnson, Strache, Orbán, Salvini oder Putin. Oder man erliegt umgekehrt dem naiven Personenkult und ist Fan von Kurz, Strache, Macron, Obama, Jane Goodall, Greta Thunberg oder dem Dalai Lama. So habe man das Gute oder das Böse und seine Ursachen erkannt und benannt, glaubt man.

Eine kurze Geschichte der Postdemokratie

Was im Forum gang und gäbe ist, unterscheidet sich allerdings nicht grundlegend davon, wie in den Medien im allgemeinen geschrieben und gesprochen wird, wenn man sich dort auch meist - nicht immer - vornehmer und ein wenig gehobener ausdrückt. Die grundsätzlichen Denkstrukturen sind dort dieselben, sie sind auf die gleiche Weise erstarrt. Gegen diesen Stillstand der Reflexion soll im vorliegenden Kommentar angeschrieben werden.

Gefragt werden soll nach den dem Brexit-Chaos zugrundeliegenden historischen Wurzeln und gesellschaftlichen beziehungsweise politischen Strukturen. Setzt man sich aber damit auseinander, so wird man bald erkennen, dass im öffentlichen Diskurs fortwährend mit völlig falschen Dichotomien argumentiert wird, wobei irreführende Gegenüberstellungen und trügerische Freund-Feindbilder suggeriert werden.

Denn Populismus und Extremismus sind nicht einfach das simple Andere zur politischen Mitte, sie sind dieser ungeheuer ähnlich, ja, sie sind gerade von ihr hervorgebracht, und sie sind insbesondere die Reaktion auf den postdemokratischen Stillstand unserer Gesellschaft, der sich in den Jahrzehnten seit dem Ende der 68er-Revolte und dem Siegeszug des Neoliberalismus – nicht zuletzt seit der brutalen Niederschlagung der Bergarbeiterrevolte 1984/85 durch die damalige britische Premierministerin Margarete Thatcher - verfestigt hat. Auch der Zusammenbruch des Ostblocks in den Jahren um 1990 spielt dabei natürlich eine Rolle.

Die Stagnation der Demokratie in den westlichen Gesellschaften zeigt sich daran, dass sie seither zu Wahloligarchien herabgesunken sind, in denen die Rolle der Bevölkerung nur mehr darauf beschränkt wird, Objekt von durchorchestrierten Wahlwerbemaschinerien, Stimmungsumfragen, Sonntagsfragen, Politik-Thermometern und ähnlichem Unsinn zu sein, ansonsten aber darf sie gelegentlich jenen Beschlüssen die Zustimmung erteilen, die die Mitglieder der herrschenden Klassen untereinander ausverhandelt haben.

Genau das wird von der Bevölkerung erwartet. Tut die Bevölkerung das einmal nicht, ist schon Feuer am Dach. Besonders entlarvend waren die Reaktionen von EU-Granden und Leitmedien im Herbst 2016, als Vertreter einer in ihren Augen unbedeutenden Regionalregierung, nämlich der des belgischen Landstriches Wallonien, es – ohnehin nur vorübergehend - wagten, die Zustimmung zum Freihandelsabkommen Ceta zu blockieren. In einhelligen Statements wurden die Wallonen scharf angegriffen und als „stur“ abgekanzelt, ebenso wie man plötzlich auf die globalisierungskritische Organisation Attac ein Diffamierungsfeuerwerk losließ. Man nannte sie „manisch“ und so weiter.

Erziehung zur Unmündigkeit

Da lebt man selbst ein solches Demokratieverständnis vor, und dann empört man sich allen Ernstes darüber, wie tyrannisch der britische Premierminister Boris Johnson mit dem Parlament umspringt? Jahrzehntelang schon betreiben die EU-Eliten doch selbst auf ähnliche Weise Politik.

War man nicht stolz darauf, dass man die gesamte Bevölkerung Griechenlands und seine demokratisch legitimierte Regierung öffentlich gedemütigt und in die Knie gezwungen hat? Unter Ausnutzung niederträchtiger nationalistisch-populistischer Narrative übrigens: Wir anständigen, fleißigen Deutschen, Österreicher, die die faulen, verschwenderischen Griechen finanzieren müssen. Hat man nicht weiters die eigene Machtpolitik stets mit dem Kampfbegriff „alternativlos“ umwölkt? Hat man nicht Politik zu etwas gemacht, das sich die Mächtigen untereinander bei Gipfeltreffen ausmachen, während oft als „Chaoten“ denunzierte Bürger davor bestenfalls demonstrieren oder Bittsteller spielen dürfen? Hat man nicht die Macht des Europäischen Parlaments möglichst klein gehalten und generell aus Parlamenten bloße Anhängsel von Regierungen gemacht?  

Und dann wundert man sich wirklich, wie denn die Menschen Europas einem weglaufen und Rattenfängern in die Falle tappen, darüber, dass sie illiberalen und autoritären Gestalten in die Fänge gehen können? Nun, man hat selbst jahrzehntelang die Bevölkerung an ein solches Politikverständnis gewöhnt. Es war einem ja durchaus recht, solange man sich das für den eigenen Macherhalt zunutze machen konnte. Ja, man hat es den Menschen geradezu antrainiert. Mit anderen Worten: Man selbst hat die Menschen gründlichst zur Dummheit und Unmündigkeit erzogen beziehungsweise sich ihrer Dummheit und Unmündigkeit bedient, wo man nur konnte und es einem zum eigenen Vorteil gereichte. Und nun stellt man betroffen fest, dass es andere gibt, die das noch besser können als man selbst und auf diesem Feld reiche Ernte halten. Das kann einen natürlich ärgern.

Kontinuität zwischen Mitte und Populismus

So ist es etwa freilich ein Leichtes, die Lügen und falschen Versprechungen der Brexiteers vor dem Austrittsreferendum im Jahr 2016 aufzulisten und mit dem pejorativen Begriff „Propaganda“ zu versehen, so wie das Zsolt Wilhelm und Florian Niederndorfer kürzlich im Standard-Podcast getan haben. Das stimmt ja auch. Trotzdem ist hier eine breiter angelegte Betrachtung vonnöten.

Ist es denn schließlich etwas Neues, dass Politiker vor Abstimmungen und Wahlen lügen und falsche Versprechungen machen? Wer hat uns denn zur Selbstverständlichkeit gemacht, dass Abstimmungen mittels Propagandaschlachten gewonnen werden - und dass man generell Politik nicht mit der Wahrheit, sondern mit allen nur erdenklichen Mitteln der Manipulation betreibt, die dazu dienen sollen, die Emotionen der Massen in eine bestimmte erwünschte Richtung zu steuern?

Solange die Anhänger der „richtigen“ Seite dabei gewonnen haben, hat das keinen gestört. Im Gegenteil, die Volksabstimmung von 1994 beispielsweise, in der die Entscheidung für den Beitritt Österreichs zur Europäischen Union in der Tat überwältigend deutlich fiel, wird von politischen Kommentatoren und Journalisten wie beispielsweise dem Standard-Kolumnisten Hans Rauscher regelmäßig im Rückblick als Meilenstein kluger „demokratischer“ Entscheidungen gelobt.

Wenn aber etwas den Titel Propaganda verdient, dann wahrhaft das, was da alles vor dieser Abstimmung gesagt und behauptet wurde. „40 000 neue Arbeitsplätze“ im Falle eines Beitritts – nein, „50 000“ – „60 000“ – nein „100 000“ – ach, was „500 000 Arbeitsplätze mehr“, wenn wir der EU beitreten.

Wenn man überprüfen würde, was damals alles gelogen wurde oder nicht so wie versprochen eingetreten ist, dann würde man wohl so einiges finden. Der Aktivist Markus Wilhelm, der mittlerweile als Blogger bekannt geworden ist, hat sich im Jahr 1997 tatsächlich diese Mühe gemacht und die gefinkelten - oder manchmal auch ganz plumpen - Strategien der EU-Befürworter vor der Volksabstimmung zusammengefasst, damals noch in Heftchenform. Ich kann jedem, insbesondere von der jüngeren Generation, der wissen will, was damals wirklich geschehen ist, die Lektüre nur empfehlen.

Brexit-Chaos …

In Österreich gibt es übrigens seitdem eine winzige Bewegung, die den Austritt aus der EU erreichen möchte. Zu der von ihr angestrebten Volksabstimmung kam es freilich nie, schon deswegen, weil sie und ihre Initiativen von den Medien fast vollkommen totgeschwiegen wurde und ihr schlicht nie der öffentliche Raum gegeben wurde, um überhaupt politisch eine Rolle zu spielen. Es kann daher verwundern, dass es in Großbritannien überhaupt je so weit kam. Das hat natürlich etwas mit den spezifischen politischen Konstellation des Landes zu tun, die hier nicht weiter erörtert werden soll.

Für viele ist der Schuldige dabei der ehemalige britische Premierminister David Cameron, der sich bei seinen Schachzügen, die eigentlich der Festigung seiner Macht dienen sollten, verkalkuliert habe. Doch auch diese Betrachtung bleibt freilich meinem Dafürhalten nach oberflächlich.

Die tiefere Ursache für das Brexit-Chaos liegt woanders. Sie ist allgemeinerer Natur und weist direkt in die postdemokratische Krise nicht nur, wie man das so gerne haben möchte, der politischen Landschaft Großbritanniens. Es handelt sich dabei um einen Prozess, den zur Zeit, wie es scheint, fast alle westliche Demokratien durchlaufen.

… und seine tieferen Ursachen

Wenn man vom "Populismus" spricht, spricht man immer wie von einem neuen, anderen Typus Politik, der plötzlich wie aus dem Nichts erschienen wäre. Das liegt im Interesse des Populisten selbst, der sich als Erneuerer inszenieren möchte, wie auch seiner Gegner, die ihn dämonisieren wollen. Demgegenüber möchte ich das Augenmerk auf die Kontinuität zwischen bisheriger Politik und Populismus richten.

Denn weit davon entfernt, dass die als „Populist“ bezeichnete Außenseiterfigur wirklich irgendeine essentiell neue Politik betriebe oder gravierend neue Methoden einführte, bedient sie sich im Wesentlichen der fragwürdigen Mittel der Machtgewinnung und des Machterhalts, die bereits vorhanden sind und die seit Jahr und Tag von der politischen Mitte selbst auch genutzt worden sind und auch immer noch genutzt werden.

Diese Mittel und Methoden hat der politische Außenseiter nicht neu erfunden, sondern nur gekapert – er treibt sie allerdings auf die Spitze und ist darum sozusagen „besser“, das heißt erfolgreicher darin, - nicht zuletzt auch deswegen, weil ihn dabei der Nimbus des Rebellen umgibt. Es mag außerdem sein, dass er noch skrupelloser vorgeht als andere bisher. Aber wir wollen uns nicht schon wieder von der falschen Frage nach dem persönlichen psychologischen oder moralischen Charakter eines Boris Johnson, eines Trump, Kickl und so weiter verwirren lassen.

Unsere Fragen sind strukturell. Das Entscheidende: Das Feld, auf dem der Populist überhaupt in Erscheinung treten und sich dem Politiker der Mitte als überlegen erweisen konnte, wurde jahrzehntelang vorbereitet durch eben diese politische Mitte selbst. Sie hat ihm alles Werkzeug in die Hände gelegt und ihm alles vorgemacht.

Der Populist ist dabei keineswegs einfach nur Antithese zur Mitte, er ist vor allem auch ihr gelehriger Schüler. Er hat die Grundregeln unserer (Post-)Demokratie und wie die Machtergreifung hier funktioniert, nur zu gut und ganz illusionslos verstanden.

Als solch ein Schüler überflügelt er seine Lehrer, - und jetzt gewinnt halt nun er plötzlich die Abstimmungen und Wahlen. Dumm gelaufen für den Lehrer, dumm gelaufen für die politische Mitte. Jetzt hat der andere den Zauberstab.

Auf dieselbe Weise kam es im Laufe der Geschichte übrigens nicht selten zur Verschiebung der Macht, zur Übergabe an einen anderen. Auch Martin Luther griff ja nur auf das zurück, was schon da und anerkannt war, auf die Worte der Heiligen Schrift, als er den Katholizismus in weiten Teilen Europas zum Einsturz brachte.

Das Phänomen Sebastian Kurz

Von hier aus wird überdies das Phänomen Sebastian Kurz neu deutbar, und gerade der laufende Wahlkampf macht dies offensichtlicher denn je. Dasselbe Spiel des Abschauens, Kopierens und Übertrumpfens kann man ja auch in der Gegenrichtung betreiben. So heißt es nun plötzlich auf den Wahlkampfplakaten des Altbundeskanzlers: „Einer, der unsere Sprache spricht“ – ein Slogan, wie man ihn bisher nur von der FPÖ kannte.

Zuerst läuft der politische Rand der Mitte den Rang durch Zuspitzung ihrer eigenen Methoden ab, dann imitiert die politische Mitte den Rand und gleicht sich ihm wiederum an. Immer nach dem Motto: Was ihr könnt, das können wir schon lange. So ähnlich wie in den guten alten Comicgeschichten zuerst Klaas Klever seinem Konkurrenten Dagobert Duck eine Geschäftsidee klaut, dann Dagobert Duck wiederum seinen Gegner gerade doch noch mit einem kleinen Trick übertrumpft.

Noch einmal jedoch: Das alles ist - anders als es dieses fiktionale Beispiel auf den ersten Blick suggeriert – allerdings keine Sache von Personen und ihres Charakters, oder wenn, dann nur sehr bedingt. Die Personen treten in Erscheinung, weil die Strukturen nach ihnen verlangen. Das Geschehen hat im Grunde einen streng logischen Ablauf. Es gibt strukturale Positionen, die sich in den politischen Interaktionen auf bereits vorhandenen Feldern plötzlich neu eröffnen und besetzbar werden, und wenn dies der Fall ist, werden sie auch früher oder später besetzt werden.

Fazit

Die Wahl zwischen der als „Populist“ bezeichneten Außenseiterfigur und dem Politiker der Mitte ist wie die Wahl zwischen Tweedledum und Tweedledee, zwischen Klaas Klever und Dagobert Duck. Sie sind bloß zwei Seiten derselben Medaille.

Denn die Mitte war immer schon Populismus. Es gibt keinen substantiellen Unterschied zwischen beiden, bestenfalls einen graduellen. Der Populismus bringt nur das zum Vorschein, was immer schon in der Mitte gesteckt hat und sie in Wahrheit auch immer schon gemacht hat. Dieser grundsätzlichen Affinität wegen kann eine effiziente Strategie gegen den Populismus nie in einer simplen Parteiergreifung für die politische Mitte bestehen. Sie muss darin bestehen, beide zur Diskussion zu stellen, den Populismus und die Mitte.

Wenn ein vielzitierter Satz des Philosophen Max Horkheimer lautet: "Wer aber vom Kapitalismus nicht reden will, sollte auch vom Faschismus schweigen", so müsste es heute heißen: „Wer die Mitte nicht kritisieren will, der soll vom Populismus und vom Extremismus schweigen.“

Man muss die Ursachen bekämpfen, und nicht bloß die Symptome. Man muss die Gesellschaft, so wie sie ist, in Frage stellen.

Das Problem ist nicht, dass der Populist die Demokratie, die wir haben, bedroht. Das Problem ist die Postdemokratie, so wie wir sie schon längst haben. (Ortwin Rosner, 25.9.2019)

Leseanregungen:

  • Theodor W. Adorno: Erziehung zur Mündigkeit. Vorträge und Gespräche mit Hellmut Becker 1959-1969. Hrsg: Gerd Kadelbach. (suhrkamp taschenbuch 11)
  • Immanuel Kant: Was ist Aufklärung? Ausgewählte kleine Schriften. (Meiner Philosophische Bibliothek Band 512)
  • Chantal Mouffe: Für einen linken Populismus. (edition suhrkamp 2729)
  • Standard-Podcast zu den Brexit-Lügen
  • Markus Wilhelm: Föhn 1/1997 Heft 23/24 (Doppelnummer): Kauf dir eine  Volksabstimmung. Ein paar nachträgliche Details zum EU-Komplott.