David Cameron (links), Johnson-Vorgänger und verantwortlich für das Brexit-Referendum, blickt in seinen Memoiren zurück in die Zukunft. Das Bild entstammt dem Jahr 2011.

Von einem Vorgänger als Lügner gebrandmarkt und bedrängt von wachsender Zustimmung für ein zweites Referendum, hat Großbritanniens Premierminister Boris Johnson seinen Antrittsbesuch bei Jean-Claude Juncker mit wuchtiger Rhetorik vorbereitet. Der EU-Kommissionschef solle nur ja nicht auf die Versuche des Unterhauses achten, einen chaotischen Brexit ("No Deal") zu verhindern: "Am 31. Oktober streifen wir die Fesseln ab, komme, was da wolle", behauptete der Premierminister. Deshalb sollten seine Verhandlungspartner dabei helfen, eine Vereinbarung zu erreichen.

Johnson hat seit seinem Amtsantritt um Brüssel einen großen Bogen gemacht. Auch am Montag reist er nicht in die belgische Hauptstadt, sondern nach Luxemburg. Bei einem Mittagessen aus Schnecken und Lachs will er dort Juncker und EU-Chefunterhändler Michel Barnier überzeugen, dass ein weiterer Aufschub des Austritts nicht infrage komme. Genau dies hat das Parlament beschlossen, ehe der Premier es vergangene Woche in den Zwangsurlaub geschickt hatte: Falls bis 19. Oktober kein neuer Deal vorliege, müsse Johnson in Brüssel um Fristverlängerung bitten. Über die Zwangspause verhandelt morgen, Dienstag, auch der britische Supreme Court. Unbeirrt von einem schweren Rückschlag im schottischen Sessionsgericht, der die ungewöhnlich lange Suspendierung des Unterhauses vergangene Woche bereits für illegal erklärt hatte, spricht Johnsons Chefberater Dominic Cummings zur Empörung der politischen Gegner weiterhin davon, man werde das geltende Gesetz notfalls umgehen. Der Premier selbst verglich sich mit der kraftstrotzenden Comicfigur Hulk (Klotz), was spöttische Bemerkungen in den sozialen Netzwerken zur Folge hatte.

Ablenkung von Gesprächen

Beides, Empörung wie Spott, dürfte der Regierung gelegen kommen, weil es von einem massiven Kurswechsel ablenkt. Offenbar hat London in Gesprächen mit Brüssel und Dublin eine Veränderung der Auffanglösung für Nordirland, dem sogenannten Backstop, ins Spiel gebracht. Sie könnte sich, wie im ursprünglichen Vertragsentwurf vorgesehen, nun doch nur auf den irischen Teil des Vereinigten Königreichs beziehen, nicht aber auf Großbritannien. Die nordirische Unionistenpartei DUP steht unter erheblichem Druck der Downing Street, einer solchen, um kosmetische Änderungen ergänzten Lösung zuzustimmen. Dies könnte auch eine größere Anzahl der konservativen Brexit-Ultras zur Kursänderung bewegen.

Gar nicht nach Einlenken zumute ist den Liberaldemokraten, die seit Samstag ihr Jahrestreffen im südenglischen Seebad Bournemouth begehen. Am Sonntagnachmittag war grünes Licht für ihre frischgewählte Parteichefin Jo Swinson für eine neuerliche Radikalisierung ihres Brexit-Kurses angesagt: Falls man bei der noch in diesem Jahr erwarteten Neuwahl eine Mehrheit der Unterhaus-Mandate erzielen würde, will Swinson nicht mehr nur ein zweites Referendum durchsetzen, sondern den EU-Austritt kurzerhand stoppen.

Dieser sensationelle Ausgang der Wahl bleibt bei aller Ungewissheit über die politischen Verhältnisse auf der Insel, nicht zuletzt wegen des Mehrheitswahlrechts, extrem unwahrscheinlich. Derzeit rangieren die Lib Dems im Durchschnitt der Umfragen bei 19 Prozent, klar hinter den Tories (33) und der Labour Party (24).

Die Krise der beiden dominanten Parteien Tories und Labour hat das kleine Häuflein um 50 Prozent anschwellen lassen. Stolz präsentierte Swinson den jüngsten Zuwachs. Der frühere Bildungsstaatssekretär Sam Gyimah, noch im Juni kurzzeitig Kandidat für die Führung der Konservativen, verurteilte Johnsons Kurs als populistisch und englisch-nationalistisch: "Die Partei hat mich verlassen, nicht umgekehrt."

Camerons Memoiren

Dabei muss Johnson sich nicht nur aus Richtung der Liberaldemokraten, sondern auch von einem Vorgänger kritisieren lassen. In Auszügen aus seinem diese Woche erscheinenden Memoirenband rechnet der frühere Premierminister David Cameron (2010-2016) mit seinen Kontrahenten aus der Referendumskampagne ab. Johnson und sein Kabinettsminister Michael Gove hätten "die Wahrheit zu Hause gelassen", als sie falsche Zahlen über die Kosten der britischen EU-Mitgliedschaft ebenso verbreiteten wie Panik über den angeblich unmittelbar bevorstehenden Beitritt der Türkei. Der jetzige Premier habe fest mit der Niederlage seiner Seite gerechnet, prominentester Brexit-Befürworter sei er aus reinem Karrierekalkül geworden. Damit bestätigt der Zeitgenosse aus Johnsons Oxforder Uni-Tagen ein in London weitverbreitetes Vorurteil über den amtierenden Regierungschef. (Sebastian Borger, 15.9.2019)