Sie werden vermutlich am Sonntag, dem 29. September ein Wahllokal aufsuchen und dort bei der von Ihnen präferierten Partei ein Kreuzerl machen. Sie müssen jetzt ganz tapfer sein: Dieses Verhalten ist irrational.

Um Ihrer Empörung zuvorzukommen, sei zur Beruhigung gleich nachgereicht: Der Begriff "irrational" bezeichnet hier "nur" eine Handlung, die in der orthodoxen Mikroökonomik als nicht rational aufgefasst wird. Lassen Sie mich kurz erklären: Rationales Handeln steht im Mittelpunkt der "rational choice theory", die oft als einziges echtes Paradigma der modernen Ökonomik bezeichnet wird. Diese "Theorie der rationalen Entscheidungen" bildet das Fundament des überwiegenden Teils der Ökonomik sowie großer Teile der Politikwissenschaften. Innerhalb der Ökonomik gibt es verschiedene kontextspezifische Definitionen von Rationalität. Hier gehen wir der Einfachheit halber von der schwächsten Variante aus und betrachten ein vereinfachtes Szenario.

Subjektive Präferenzen und Ergebnis-Lotterien

Sie haben in einer Entscheidungssituation eine Reihe von Handlungsalternativen und müssen eine davon auswählen. Jede Alternative führt zu einem bestimmten Ergebnis, allerdings kann diese Zuordnung stochastisch sein, das heißt, eine bestimmte Alternative kann zum Beispiel dazu führen, dass mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit Ergebnis A eintritt und mit der Gegenwahrscheinlichkeit Ergebnis B. Denken Sie etwa an die Alternativen, bei Ihrem Spaziergang einen Regenschirm mitzunehmen oder nicht, wobei die Regenwahrscheinlichkeit, sagen wir, 30 Prozent beträgt. Die Alternative "keinen Schirm mitnehmen" führt dann mit 30 Prozent Wahrscheinlichkeit zu dem Ergebnis "Sie werden nass" und mit 70 Prozent Wahrscheinlichkeit zum Ergebnis "Sie bleiben trocken". Die Alternative "Schirm mitnehmen" führt dagegen mit 100 Prozent Wahrscheinlichkeit zu dem Ergebnis "Sie bleiben trocken", allerdings schleppen Sie dann einen Schirm mit sich herum, den Sie möglicherweise gar nicht brauchen.

Nun haben Sie (subjektive) Präferenzen über die möglichen Ergebnisse; das heißt, Sie können zu je zwei möglichen Ergebnissen stets angeben, welches davon Sie bevorzugen. Zum Beispiel trifft es vermutlich zu, dass Sie bei einem Spaziergang lieber trocken bleiben und einen Schirm mitschleppen, als dass Sie klitschnass werden. Darüber hinaus haben Sie nicht nur Präferenzen über die Ergebnisse, sondern sogar über sogenannte Ergebnis-Lotterien. Das heißt, Sie können angeben, ob Ihnen das Ergebnis "trocken und Schirm schleppen" lieber ist als eine 30-zu-70-Prozent-Chance auf "nass" beziehungsweise "trocken".

Diese Präferenzen über Ergebnisse beziehungsweise Ergebnis-Lotterien folgen bestimmten Annahmen, die ein Mindestmaß an innerer Konsistenz garantieren, zum Beispiel, wenn Sie A lieber haben als B und B lieber als C, dann sollten Sie auch A gegenüber C bevorzugen, und eine Fifty-fifty-Lotterie zwischen A und C gegenüber einer solchen zwischen B und C, und so weiter. Dass Sie "rational" entscheiden, bedeutet nun einfach, dass Sie entsprechend Ihrer Präferenzen entscheiden, also unter den Handlungsalternativen stets jene auswählen, die zu der von Ihnen am meisten bevorzugten Ergebnis-Lotterie führt.

Plausible Risikoeinstellung

Nun bringen wir Geld ins Spiel und fragen: Was würden Sie bevorzugen, wenn Sie die Wahl hätten zwischen einerseits trocken zu bleiben und andererseits nass zu werden, aber dafür eine Entschädigung von einem Euro zu erhalten? Sie würden sich die Trockenheit vermutlich nicht um diesen geringen Preis "abkaufen" lassen. Erhöhen wir jetzt gedanklich den Preis für das Trockenbleiben so lange, bis Sie schließlich doch lieber die Nässe und das Geld wählen, so können wir Ihren subjektiven Wert des Trockenbleibens in Geldäquivalenten messen. Zum Beispiel könnten Ihnen das Trockenbleiben zehn Euro wert sein und das Keinen-Schirm-tragen-Müssen zwei Euro. Wenn Sie bei einer Regenwahrscheinlichkeit von 30 Prozent nun einen Schirm mitnehmen, so ist das äquivalent dazu, dass Sie um zwei Euro ein Lotterielos kaufen, das mit 70 Prozent Wahrscheinlichkeit zehn Euro auszahlt. Das sagt etwas über Ihre sogenannte Risikoeinstellung aus, es klingt aber jedenfalls nicht unplausibel.

Was hat das Wetter jetzt mit den Nationalratswahlen zu tun?

Ganz einfach: Wir wenden die "rational choice theory" auf die Entscheidung an, ob Sie wählen werden oder nicht. Der Wahlausgang bestimmt, welche Partei mit der Regierungsbildung beauftragt wird, welche wie viele Mandate erhält und so weiter. Bei manchen geht es darum, ob sie die Vierprozenthürde zum Einzug in den Nationalrat schaffen, bei anderen, ob es ihnen gelingt, zweitstärkste Partei zu werden oder gar stärkste. Als Wählerin oder Wähler haben Sie bestimmte Präferenzen über diese Ergebnisse und möchten durch Ihr Kreuzerl in der Wahlkabine dazu beitragen, das Ergebnis in Ihrem Sinne günstig zu beeinflussen.

Neben diesen Handlungsalternativen gibt es auch noch die des Nichtwählens.
Foto: APA/ROLAND SCHLAGER

Betrachten wir nun Ihre Handlungsalternativen. Sie können wählen oder nicht wählen. Wenn Sie am 29. September den Gang zum Wahllokal antreten, verlieren Sie Zeit, die Sie ansonsten mit Ihren Kindern oder mit einem guten Buch verbringen könnten, Sie tragen also gewisse Kosten. Wie groß sind diese, grob geschätzt, in Geldäquivalenten? Das heißt, mit wie vielen Euro müsste man Sie entschädigen, um an einem beliebigen anderen Sonntag zum Wahllokal zu marschieren, dort zehn Minuten zu warten und wieder nach Hause zu gehen? Sagen wir, dieser Betrag liegt bei zehn Euro, und nennen wir das die "Kosten" des Wählens.

Wie groß ist nun der "Gewinn" des Wählens, also der in Geldäquivalenten gemessene Vorteil, der Ihnen entsteht, wenn das für Sie günstigere Ergebnis eintritt? Sagen wir, um konkret zu bleiben, die von Ihnen favorisierte Partei liege laut Umfragen knapp an dritter Stelle, habe aber Chancen auf den zweiten Platz. Es gibt also zwei für Sie relevante Ergebnisse, entweder Ihre Partei landet auf dem zweiten oder auf dem dritten Platz. Wie viel wäre es Ihnen wert, wenn es der zweite statt des dritten Platzes werden würde? Mit anderen Worten: Welche Entschädigungszahlung müsste man Ihnen bieten, um einen zweiten Platz Ihrer Partei gegen einen dritten zu tauschen? Vielleicht 10.000 Euro? Oder gar 100.000 Euro? Sie müssen für so eine Überlegung weder geldgierig noch egoistisch sein – bedenken Sie, dass Sie die 100.000 Euro auch Ihren Kindern schenken oder spenden könnten, oder was auch sonst immer Ihnen sinnvoll erscheint.

Risikofreudig oder risikoneutral?

Stellen Sie sich jetzt eine Lotterie vor, in der ein Los zehn Euro kostet und die die Chance auf einen Gewinn von 100.000 Euro bietet. Wie groß müsste diese Gewinnchance mindestens sein, damit Sie ein Los kaufen? Wenn Ihnen eine Chance von 1:10.000 ausreicht, dann sind Sie risikoneutral, weil Sie sich offenbar nach dem mathematischen Erwartungswert der Lotterie richten, der hier 100.000 Euro mal (1:10.000) beträgt, also genau zehn Euro. Die meisten Menschen erweisen sich in so einer Entscheidungssituation aber nicht als risikoneutral. Viele sind risikoavers und verlangen eine deutlich höhere Gewinnchance, damit sie sich tatsächlich ein Los kaufen. Andere sind dagegen risikofreudig und kaufen selbst dann ein Los, wenn die Chance auf den Gewinn noch kleiner ist als 1:10.000, wie es etwa im echten Lotto der Fall ist. Nehmen wir hier an, Sie seien extrem risikofreudig und würden schon ab einer Gewinnchance von 1 zu 1 Million ein Los kaufen.

Und nun zurück zur Wahl

Statt der Geldäquivalente betrachten wir wieder die realen Kosten und Gewinne. Ihre "Kosten" des Wählens hatten wir auf zehn Euro geschätzt und den möglichen "Gewinn", das Erreichen des zweiten Platzes, auf 100.000 Euro. Aus den Annahmen, die die innere Konsistenz Ihrer Präferenzen über Ergebnis-Lotterien garantieren, folgt dann, dass Sie wählen gehen werden, wenn die Wahrscheinlichkeit, dass Ihre Stimme Ihrer Partei zum zweiten Platz verhilft, mindestens 1 zu 1 Million beträgt. Allerdings tritt dieser Fall nur dann ein, wenn Ihre Partei ohne Ihr Kreuzerl um exakt eine einzige Stimme hinter der Konkurrenz liegen würde. (Zu Ihren Gunsten nehmen wir hier an, dass bei Stimmengleichstand Ihre Partei schließlich auf den zweiten Platz kommt.) Die Wahrscheinlichkeit, dass das passiert, ist sehr, sehr gering. Tatsächlich lässt sich mit statistischen Methoden abschätzen, dass diese Wahrscheinlichkeit – bei über sechs Millionen Wahlberechtigten und einer ungefähren Wahlbeteiligung von 80 Prozent – einige Größenordnungen kleiner ist als 1 zu 1 Million. Die Konsequenz daraus: Sie gehen nicht wählen. Oder, anders ausgedrückt: Wenn Sie es doch tun, handeln Sie irrational.

Natürlich lässt sich niemand gerne nachsagen, irrational zu handeln. Seit der US-amerikanische Wirtschafts- und Politikwissenschafter Anthony Downs 1957 dieses "Wahlparadoxon" erstmals thematisierte, gab es immer wieder Versuche, zum "gewünschten" Resultat zu kommen, dass Wählen irgendwie doch rational sei. Die Kosten des Wählens seien viel niedriger, der Gewinn viel höher, die Wahrscheinlichkeit doch nicht so gering, und so weiter. Keiner dieser Versuche war allerdings überzeugend. Andere Entgegnungen beruhen auf Missverständnissen. So folgt etwa keineswegs, dass rationale Wahlberechtigte eine Wahlbeteiligung von null Prozent aufweisen würden. Auch der oft triumphierende Hinweis darauf, dass Rationalität "in Wirklichkeit" etwas ganz anderes bedeute, geht am Kern der Sache vorbei und dient wohl am ehesten der Aufwertung des eigenen Egos.

Am ehesten lässt sich noch die Erklärung nachvollziehen, dass das Wählen aus gesellschafts- und demokratiepolitischen Gründen eine ethische Pflicht ist und die meisten Bürgerinnen und Bürger eben deshalb wählen. Wählen ist also zwar nicht rational, aber ethisch richtig. Also gehen Sie am 29. September bitte wählen! Aber seien Sie sich dessen bewusst, dass Ihre Stimme am Ergebnis genau gar nichts ändern wird. Wenn Sie also aus irgendwelchen Gründen verhindert sind, dann ist das auch nicht tragisch. (Ulrich Berger, 17.9.2019)

Ulrich Berger ist Professor am Department Volkswirtschaft der WU Wien und beschäftigt sich in seiner Forschung hauptsächlich mit Spieltheorie.
Foto: Ulrich Berger