"Sehr politisch, aber nicht unbedingt aktivistisch" will Ekaterina Degot ihr Festival. "Ich bin an Inhalten interessiert, und Inhalte sind immer politisch."

Foto: Marija Kanižaj

Eine FPÖ-Aussendung wirft dem Steirischen Herbst vor, dass das "hochsubventionierte" Festival mit dem Thema Genuss "gegen den Tourismusstandort Steiermark und seine Besucher" aushole.

Foto: Screenshot / Website FPÖ Steiermark

Eduard Freudmann interveniert beim Befreiungsdenkmal im Burggarten in Graz.

In ihrer Handtasche trägt Ekaterina Degot William Johnstons Buch The Aus trian Mind mit sich. Sie verstehe die österreichische Seele dadurch besser, sagt die gebürtige Russin, die seit 2018 den Steirischen Herbst leitet. So düster der dunkle Einband des Buches auch ist, Degot fühlt sich in Österreich wohl. Ab Donnerstag geht in der Steiermark unter ihrer Ägide die Welt nobel zugrunde – das Motto der diesjährigen Ausgabe lautet Grand Hotel Abyss – Grand Hotel Abgrund.

STANDARD: Sie haben das heurige Motto vom Philosophen Georg Lukács ausgeborgt, der es in den 1930ern prägte. Warum?

Degot: Ich glaube, viele Leute haben heute das Gefühl, in einer Art Endzeit zu leben. Politisch und ökologisch wird viel darüber gesprochen, wie katastrophal die Situation ist. Den Druck, genussvoll zu leben, gibt es aber überall und unabhängig von Krisen, zumindest für jene von uns, die so privilegiert sind, in reichen europäischen Ländern zu leben. Dieses Gefühl, dass das Orchester spielt, während das Schiff sinkt, ist auch sehr habsburgisch.

STANDARD: Dabei war der Abgrund für den Westen lange nicht mehr auf dem Radar. Dann kamen 9/11, Wirtschaftskrise, Migration, Klimakrise, Rechtspopulismus ...

Degot: Verglichen mit Russland ist Österreich ein Kurort. Es gibt noch Strukturen, die die soziale Schere weniger präsent machen. Das vermittelt ein Gefühl der Sicherheit. Es gibt aber politische Veränderungen wie die Normalisierung des Nationalismus, die sich sehr langsam vollzieht, fast unsichtbar und deswegen so gefährlich ist.

STANDARD: Wie gehen die Künstler im Programm mit der Endzeitstimmung um?

Degot: Einige finden positive Aspekte in der Apokalypse, indem sie diese als eine Art Revolution deuten. Aber eigentlich stand nicht der Abgrund am Anfang unserer Überlegungen, sondern das Thema Genuss. Das apokalyptische Gefühl ist dazugekommen, denn Genuss ist ja so faszinierend, eben weil er den Abgrund miteinschließt.

STANDARD: Weil die Dekadenz naheliegt?

Degot: Dieses Wort ist mir zu verurteilend, wir sind an anderen Aspekten interessiert. Die touristische Identität der Steiermark definiert sich etwa über Genuss. Man kann sich etwa davon ausgehend fragen, wer ein Recht auf Genuss hat. Wer muss für den Genuss der anderen arbeiten? Wer sitzt nicht mit am Tisch? Ich amüsiere mich auch über Wörter wie "Kulturgenuss".

STANDARD: Warum?

Degot: Genuss ins Zentrum der Kunst zu stellen ist unmodern. Ich sehe Kunst als Möglichkeit, eine Diskussion zu eröffnen. Viele unserer Werke brauchen eine extra Portion Bemühen, um verstanden zu werden. Kultur ist schwieriger als die Unterhaltungsindustrie, aber sie bringt auch mehr. Kultur ist keine Nachspeise.

STANDARD: Eine FPÖ-Aussendung beklagt, dass das "hochsubventionierte" Festival mit dem Thema "gegen den Tourismusstandort Steiermark und seine Besucher" ausholt ...

Degot: Als ob wir den Österreichern ihre Erholung und den Genuss abspenstig machen wollen würden! Es herrscht hier die problematische und populistische Tendenz, anzunehmen, dass Förderung mit Loyalität einherzugehen habe. Dass Kultur die Aufgabe hat, kritisch zu sein, stößt nicht immer auf Verständnis.

STANDARD: Der Steirische Herbst versucht, international wahrgenommen zu werden, gleichzeitig hat er den Anspruch, ein regionales Festival zu sein. Wie klappt das?

Degot: Der Steirische Herbst ist auf Widersprüchen aufgebaut wie dem, als Avantgarde ein großes Publikum zu erreichen. Regional und international zu wirken ist auch so ein Widerspruch. Aber wir sind idealistisch und glauben, dass das möglich ist.

STANDARD: Sie haben aber ein Kuratorenteam, das wenig in Graz vernetzt ist ...

Degot: Beim ersten Festival war ich erst kurz zuvor in Graz angekommen und wusste über die Stadt und die Steiermark überhaupt nichts. Aber ich wurde eingeladen, dieses Festival zu machen, obwohl oder vielleicht weil ich nicht von hier bin. Der Blickwinkel von außen hat etwas für sich. Heuer gehen wir aber in die Steiermark hinaus und profitieren dabei von Ratschlägen der Leute vor Ort. Stubenrein ist eine lokale Initiative, die wir unterstützen, wir zeigen eine Performance in Köflach und eine Installation an der Steirischen Apfelstraße. Das werden wir ausbauen.

STANDARD: Viele Künstler kommen heuer aus Osteuropa. Nutzt Graz seine Lage?

Degot: Künstler aus diesem Raum fühlen sich im Westen irgendwie außenstehend, diese kulturmigrantische Situation finde ich sehr produktiv. Mehrsprachigkeit ist eine enorme Bereicherung. Graz ist eigentlich eine Grenzstadt, und statt sich als Bollwerk zu verstehen, wäre es besser, es verstünde sich als Übersetzungsstadt. Es leben viele Leute aus anderen Ländern hier, besonders vom Balkan. Graz hätte also enormes Potenzial, kosmopolitisch zu sein.

STANDARD: Aber es fehlt das Interesse?

Degot: Vor allem herrscht das Gefühl, dass in Graz sowieso alles gut sei. Historisch ist Graz die Stadt, in der reiche Pensionisten aus Wien ihren Lebensabend verbrachten. Migranten mögen nicht in dieses Bild passen, sind aber Teil des Lebensalltags. (Amira Ben Saoud, Michael Wurmitzer, 17.9.2019)