Im Gastkommentar erläutert der ehemalige Spitzendiplomat Stefan Lehne, warum von der Leyen vor einer schwierigeren Aufgabe als ihr Vorgänger steht.

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Ursula von der Leyen (im Bild in Brüssel bei der Präsentation ihres Teams) musste ziemlich viel jonglieren, um zu ihrem Personaltableau zu kommen.
Foto: Reuters / Yves Herman

Die Zusammensetzung der Kommission ist ein politischer Trapezakt. Vor allem muss das Gleichgewicht gehalten werden: zwischen Groß und Klein, Nord und Süd, Ost und West, zwischen Parteiengruppen und – in diesem Jahr besonders aktuell – zwischen Frauen und Männern. Und das trotz eines ständigen Trommelfeuers politischer Interventionen aus den europäischen Hauptstädten. Darüber hinaus sollen die richtigen Personen für verschiedene Aufgaben gefunden und durch die Gestaltung der Portfolios die politischen Prioritäten der neuen Kommission definiert werden.

Insgesamt ist Ursula von der Leyen, die ja eher eine Notlösung für die Funktion der Kommissionspräsidentin war, dieses Kunststück gut gelungen. Für die zentralen Aufgaben ihrer Kommission (Klima, Digitales, Handel) hat sie mit Frans Timmermans, Margrethe Vestager und Phil Hogan profilierte und erfahrene Kommissare ausgewählt. Die Kandidaten aus großen Ländern (Sylvie Goulard Binnenmarkt / Verteidigung, Paolo Gentiloni / Wirtschaft) wurden wie in der Vergangenheit mit gewichtigen Ressorts bedacht, aber auch einige Politiker aus kleineren Ländern erhielten wesentliche Aufgaben.

Für Verständnis werben

Die bei den Spitzenfunktionen leer ausgegangenen mitteleuropäischen Staaten wurden mit Vizepräsidentenhüten getröstet. Dass ausgerechnet der italienische Kandidat sich mit Fragen der Budgetdisziplin befassen muss, schließt an die Tradition an, heikle Dossiers Politikern aus besonders betroffenen Ländern anzuvertrauen, damit diese dort für Verständnis für die Position der Kommission werben.

Dieser Gedanke könnte auch bei der Bestellung Johannes Hahns zum Budgetkommissar eine Rolle gespielt haben. Österreich vertritt bei den Verhandlungen über das Finanzpaket 2021-27 eine ausgeprägt restriktive Linie, wird aber letztlich nicht um eine erhebliche Steigerung seines Nettobeitrags herumkommen.

Zu große Kommission

Die Vorstellung des Teams zeigt aber auch, dass ein Kollegium von 27 Kommissaren, gemessen an den realen Aufgaben der Kommission, zu groß ist. Vage Ressortbezeichnungen wie "Demokratie und Demografie", "Innovation und Jugend" und eine Proliferation von acht Vizepräsidenten deuten auf die Schwierigkeit hin, sinnvolle Beschäftigungen für so viele Mitglieder zu finden. Eine Menge Überlappungen und Abgrenzungsprobleme könnten zu internen bürokratischen Grabenkämpfen führen.

Die endgültige Zusammensetzung der Kommission wird erst nach den Hearings im Europäischen Parlament feststehen. Schon aus Selbstachtung wird das Parlament die eine oder andere Änderung beim Personal oder bei der Aufgabenverteilung erzwingen. Vermutlich gibt es im Konzept von der Leyens bereits "Sollbruchstellen". So ist der ungarische Kandidat László Trócsányi, ein enger Weggefährte Viktor Orbáns, wohl kaum der richtige Mann, um als Erweiterungskommissar den Balkanländern Rechtsstaatlichkeit zu vermitteln. An der Überdimensionierung der Kommission kann das Parlament freilich nichts ändern. Aber vielleicht wird der Europäische Rat bis zur Aufstellung der nächsten Kommission 2024 die im Vertrag längst vorgesehene Verkleinerung der Kommission auf zwei Drittel der Mitgliedstaaten endlich umsetzen.

Neue Führungsebene

Einer Aufforderung des Rats folgend, hat von der Leyen eine neue Führungsebene eingezogen. Drei "exekutive" Vizepräsidenten (Timmermans, Vestager, Dombrovski), wurden mit Führungsaufgaben aber auch mit Eigenverantwortung für Schlüsselbereiche betraut. Dieser Schritt dürfte aber wenig an der zentralen Rolle der Kommissionspräsidentin ändern. Nicht zuletzt aufgrund der Aufblähung des Gremiums hat sich die Kommission in den letzten Jahren zu einer Art "Monarchie" entwickelt, in der die Politik in erster Linie zwischen Präsidentenbüro und Generalsekretariat abgestimmt wird. Die übrigen Kommissare und die Generaldirektionen haben an Gewicht eingebüßt.

So stark die Kommissionspräsidentin intern ist, nach außen ist ihr Erfolg davon abhängig, ob ihre Vorschläge in Parlament und Rat Unterstützung finden. Und hier steht von der Leyen vor einer schwierigeren Aufgabe als ihr Vorgänger. Im Parlament konnte sich Juncker auf eine solide Mehrheit von Christ- und Sozialdemokraten stützen. Nun ist der Entscheidungsprozess viel komplexer mit wechselnden Koalitionen, noch unerfahrenem Führungspersonal und höherem Störpotenzial EU-skeptischer Gruppen.

Viel Instabilität

Im Rat ist die Situation nicht einfacher. Der Anfang wird von Kontroversen und Verteilungskämpfen über das zukünftige Finanzpaket geprägt sein. Rechtsstaatlichkeit und Migration bleiben umstrittene Themen. Das Brexit-Debakel und die instabile innenpolitische Situation in Ländern von Deutschland über Italien bis Spanien werden auf die kollektive Handlungsfähigkeit der Union durchschlagen. Dazu kommen außen- und sicherheitspolitische Krisen und die sich eintrübende Wirtschaftslage.

Trotzdem setzt von der Leyen auf Tempo. Noch in den ersten hundert Tagen soll ein ganzes Bündel von Initiativen vorgelegt werden, einschließlich des "Green New Deal" mit neuen ambitionierten Zielsetzungen zur Klimafrage. Von der Leyen hat recht. Vor allem der Klimawandel, aber auch andere Herausforderungen erfordern von der Union Entschlossenheit und hohe Arbeitsintensität. Aber um diese Vorhaben in der von zentrifugalen Kräften gebeutelten EU ans Ziel zu bringen, braucht von der Leyen große Führungsstärke, Überzeugungskraft und eine ziemliche Portion Glück. Dies ist ihr und uns zu wünschen. (Stefan Lehne, 17.9.2019)