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Im April 2014 landete Nicolas Hénin nach zehnmonatiger Geiselhaft wieder in Frankreich.

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Nicolas Hénin heute: Er berät Organisationen in Terrorfragen und leitet Bildungskurse in Gefängnissen.

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Der Treffpunkt ist präzis gewählt: Das Pariser Bistro hat einen einzigen Eingang, und Nicolas Hénin nimmt mit dem Rücken zur Spiegelwand Platz, sodass er das Kommen und Gehen im Blick behält. Vielleicht besser so: Der 43-jährige Franzose hat, um es vorsichtig auszudrücken, auf keiner Seite Freunde. Für die Jihadisten ist er ein Todeskandidat, und von Rechtsextremen hat er schon Morddrohungen erhalten.

Aber der Reihe nach. Nicolas Hénin war ein erprobter Kriegsreporter, der fünfzehn Jahre lang über den arabischen Raum berichtete und dabei auch Jihadisten – oft die gleichen – von Somalia über Libyen bis nach Jemen traf. 2013 wurde er im syrischen IS-Zentrum Rakka entführt und zusammen mit anderen zehn Monate lang als Geisel gehalten. Er lernte dabei unter anderem den später vor laufender Kamera exekutierten Amerikaner James Foley kennen, wurde selber gefoltert.

Attentat in Brüssel

Über seine Freilassung im April 2014 redet er ungern, das ist Geheimdienstsache. Auf jeden Fall erkannte er nur einen Monat später seinen Hauptschergen, den Franzosen Mehdi Nemmouche, als Attentäter des Anschlags auf das jüdische Museum von Brüssel (vier Todesopfer). Bei Nemmouches Prozess in Belgien trat Hénin Anfang dieses Jahres als Zeuge auf. Erstmals erzählte er, wie ihn sein Geiselwächter malträtierte. "Vorher hatte ich mich dazu sehr zurückgehalten, auch in meiner eigenen Familie", erzählt Hénin. "Vor Gericht kam alles heraus, bis zu den Fingernagelzangen und dem Psychoterror. Und seltsam: Nachdem ich seit meiner Freilassung unter Albträumen gelitten hatte, fühlte ich mich nach dieser Zeugenaussage leicht und befreit; erstmals seit langem schlief ich wieder gut."

Unfreiwilligerweise hatte die Ex-Geisel dem Peiniger in der Gerichtsverhandlung selber eine Falle gestellt: Als Hénin erzählte, wie der Sadist eine andere Geisel erniedrigte und sie "mein kleiner Didier" nannte, musste Nemmouche spontan lächeln. Damit hatte er sich verraten, nachdem er zuvor die Teilnahme an den Geiselaffären kategorisch bestritten hatte. Wegen des Museumsattentats zu lebenslanger Haft verurteilt, ist er unlängst nach Paris überstellt worden, wo er auch für seine anderen Taten geradestehen muss.

Hénin nennt seine zehnmonatige Haftzeit eine "extreme Erfahrung". Absolut unerträglich sei, dass man als Geisel jede Kontrolle über sein Leben verliere. Die Jihadisten wollten ihn zudem psychisch zugrunde richten, indem sie zum Beispiel getötete Geiseln mit durchschnittener Kehle vor seine Zellentür legten. "Ich überlebte letztlich nur, weil es mir gelang, ein Mensch zu bleiben", meint Hénin.

Diesem Prinzip folgt er bis heute "Mir geht es nicht um Rache. Das wollen die Jihadisten, und wir dürften uns nicht in ihr Spiel hineinziehen lassen", meint Hénin, der als Geisel orange Kleider tragen musste, weil sich die IS-Wächter für Guantánamo rächen wollten.

In Frankreich rufen viele seit den Pariser Terrorattacken von 2015 nach Vergeltung. Ein Vater, der in der Pariser Bataclan-Mordnacht seine Tochter verloren hatte, twitterte, man solle die in Syrien gefangenen Jihadisten nicht nach Frankreich ausliefern, sondern vor Ort erschießen. Hénin mahnte darauf öffentlich, kühlen Kopf zu bewahren. Darauf wurde er beschimpft und auf Internet selber zum Abschuss freigegeben.

Glauben an die Justiz

Hénin hat Klage gegen unbekannt eingereicht. "Ich glaube an die Justiz. Nur sie kann dafür sorgen, dass sich die Gewaltspirale nicht weiterdreht", meint Hénin. "Auch die Jihadisten haben für ihre Verbrechen zu zahlen, und wir müssen sie ohne Unterlass bekämpfen. Aber stets mit den Mitteln des Rechtsstaates. Wir brauchen keinen Überwachungsstaat, sondern kollektive Wachsamkeit."

Hénin ist kein Weichling. Er sagt, er wende seit seiner Geiselhaft "jede Minute" seines Lebens zur Terrorbekämpfung auf. Seinen Job als Reporter hat er an den Nagel gehängt. Heute lebt der politisch nie engagierte Reserveoffizier zwischen Deutschland und Frankreich, wo er internationale, europäische und frankophone Organisationen in Terrorfragen berät. Er leitet Bildungskurse und tritt in Gefängnissen auf.

Mit den gefährdeten oder bereits radikalisierten Häftlingen spricht er über alles – außer über Religion. Das überlässt er den muslimischen Seelsorgern in den Gefängnissen. "Sie leisten eine sehr wichtige vorbeugende Arbeit, um Radikalisierung zu verhindern", findet Hénin. "Ansonsten setzen die Haftanstalten heute eher auf soziale Integration und psychologische Betreuung als auf Entradikalisierung."

Die USA hätten es bereits völlig aufgegeben, in den Haftanstalten auf die religiöse Ausrichtung einzuwirken. "Ich mag das Wort ,Deradikalisierung‘ auch nicht mehr", bekennt der Franzose. "Man kann nicht jemanden deradikalisieren, wenn er nicht selber dazu bereit ist." (Stefan Brändle aus Paris, 17.9.2019)