Was tun angesichts einer süßen Versuchung? Hemmungslos zugreifen oder sich doch in Zurückhaltung üben?
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Selbstkontrolle gilt als Basis des Erfolgs. Davon war schon der römische Stoiker Seneca überzeugt ("Der sei der Mächtigste, der sich selbst in der Gewalt habe"). Der berühmte "Marshmallow-Test" mit seinen zahlreichen Nachfolgern hat dafür nach mehr als zweitausend Jahren die wissenschaftliche Bestätigung geliefert. Mit dieser ab den 1960er-Jahren durchgeführten Langzeitstudie in Sachen Selbstbeherrschung konnten amerikanische Forscher nämlich nachweisen, dass über den Erfolg im Leben neben Intelligenz und Herkunft vor allem auch die Disziplin entscheidet.

Hunderte Kindergartenkinder nahmen damals an diesem Test teil. Dabei wurden die Kleinen vor eine schwere Entscheidung gestellt: Entweder ein Stück ihrer Lieblingssüßigkeit sofort oder zwei Stücke davon nach einer gewissen Wartezeit. Die zentrale Erkenntnis aus dieser Untersuchung zeigte sich viele Jahre später: Jene Kinder, die ihre Gier nicht bezwingen konnten und sich sofort über den Leckerbissen hermachten, brachten auch als Erwachsene wenig Selbstdisziplin auf.

Geduld führt zu Erfolg

Ihr Leben verlief auf vielen Ebenen weniger erfolgreich als das jener Probanden, die schon als Kinder geduldig auf die doppelte Portion warten konnten. Diese waren später selbstbewusster, erzielten höhere Werte bei Intelligenztests und konnten sich besser konzentrieren, fanden die Wissenschafter zehn Jahre nach dem ersten Test heraus. Nach weiteren zehn Jahren hatten sie häufiger einen Uni-Abschluss, stabilere Beziehungen, waren schlanker und nahmen seltener Drogen.

Eine Reihe anderer Untersuchungen kam zu ähnlichen Ergebnissen. So zeigte etwa eine Harvard-Studie, dass ungeduldige Menschen, die nicht auf eine Belohnung warten können, häufiger übergewichtig oder fettleibig sind. Auch eine großangelegte Langzeitstudie in Neuseeland belegte signifikante Zusammenhänge zwischen Selbstkontrolle und Erfolg: Wer seine Bedürfnisse schon als Kind im Griff hat, so ein wichtiges Ergebnis der Studie, bricht seltener die Schule ab und verdient später mehr. Frauen werden seltener ungewollt schwanger, bei den Männern sinkt die Wahrscheinlichkeit, spielsüchtig oder kriminell zu werden.

Eine Frage der Persönlichkeit

Man kann also davon ausgehen, dass mangelnde Selbstkontrolle statistisch betrachtet die Lebenschancen vermindert. Diese Annahme findet vielfach Bestätigung in einer Zeit, in der körperliche und geistige Selbstoptimierung als Freizeitvergnügen für die breite Masse gehandelt werden. Wie aber geht es einem Menschen, der laufend Versuchungen widersteht? Michail Kokkoris vom In stitut für Marketing und KonsumentInnenforschung der Wirtschaftsuniversität Wien geht dieser Frage gemeinsam mit seinen Kollegen Erik Hölzl von der Uni Köln und Carlos Alós-Ferrer von der Uni Zürich nach.

"Wir wollen herausfinden, wie Selbstkontrolle auf der subjektiven Ebene wahrgenommen wird", sagt Kokkoris. In insgesamt elf Studien haben die Forscher zu diesem Zweck mit unterschied lichen Methoden untersucht, inwieweit der Persönlichkeitstyp die mit Selbstkontrolle verbundenen Empfindungen beeinflusst. Wie rational oder emotional ein Proband tickt, wurde vorher mithilfe eines etablierten standardisierten Fragebogens ermittelt. Konkret hat man damit erkundet, wie stark eine Testperson ihre Entscheidungen auf Basis rationaler Begründungen oder eher intuitiv und gefühlsgeleitet trifft.

Schokolade oder Karotte

Eine der Studien wurde in den USA während der Karwoche durchgeführt. Die Teilnehmer bekamen täglich einen digitalen Fragebogen zugeschickt, in dem sie die Versuchungen der vergangenen 24 Stunden und ihre Reaktion darauf eintragen sollten. Auch die damit verbundenen Gefühle wurden erfasst. "Während die eher rationalen Typen mit ihrem Verzicht sehr zufrieden waren, empfanden sich die stärker emotional veranlagten Probanden durch das Zurückstellen ihrer momentanen Bedürfnisse durchschnittlich unzufriedener, da weniger authentisch." Für sie ist erfolgreiche Selbstkontrolle also nicht unbedingt ein sicherer Weg zu mehr Lebensglück.

Vergleichbare Ergebnisse brachte auch eine als Geschmackstest getarnte Untersuchung mit Studierenden, die auf Diät waren und die sich zwischen einem Stück Schokolade und einer Karotte entscheiden mussten. Emotionale Probanden, die trotz der Diät die Schokolade wählten, zeigten sich mit ihrer Entscheidung deutlich zufriedener als jene, die in der Tendenz eher rational agierten.

Sich selbst treu bleiben

"Selbst wenn beide Persönlichkeitstypen das gleiche Ziel anstreben, ist erfolgreiche Selbstkontrolle für gefühlsbetontere Menschen weniger befriedigend", bringt Michail Kokkoris die wichtigsten Erkenntnisse der in Österreich und den USA durchgeführten Untersuchungen auf den Punkt. "Sie haben dabei oft das Gefühl, sich durch das Unterdrücken ihrer Bedürfnisse selbst zu betrügen, und entscheiden sich deshalb oft bewusst dagegen." Einer Versuchung nachzugeben bedeutet demnach nicht automatisch Kontrollverlust – man kann sich auch bewusst gegen Selbstkontrolle entscheiden, um sich selbst treu zu bleiben.

Doch welche Folgen hat das permanente Niederringen des inneren Schweinehunds für die Dompteure? Zeitgeist und digitale Dressurhilfen in Form diverser Optimierungs-Apps lassen Selbstbeherrschung leicht zur schleichenden Selbstzerstörung werden, die sich oft erst als Burnout bemerkbar macht. Vielleicht wäre es sinnvoll, die eigenen Bedürfnisse etwas mehr zu respektieren, bevor man sie knebelt und ruhig stellt. "Wie vieles an sich Gute hat auch die Selbstkontrolle Nebenwirkungen", resümiert Kokkoris.

Tief in der Kultur verankert

Eine Erkenntnis, die aktuell weder in der Gesellschaft noch in der Forschung allzu große Aufmerksamkeit erfahre. "Selbstkontrolle ist durch die Kultur tief in uns verankert und wird nach wie vor als Lösung für viele Probleme gesehen", so der Wissenschafter. Religion, Märchen, Erziehung etc. – alles betone deren Wichtigkeit. "Wobei man in den mediterranen Ländern die Selbstdisziplinierung wahrscheinlich etwas entspannter praktiziert", meint der gebürtige Grieche.

Obwohl: Seneca, der große Apologet der Selbstbeherrschung, war Römer. Dass man dem Politiker und Schriftsteller vorwarf, seinen Reichtum auf nicht ganz saubere Art erworben zu haben, passt übrigens zu den Ergebnissen einer anderen Untersuchung in Sachen Selbstkontrolle: Durch diese fand man nämlich heraus, dass ratio nale Persönlichkeitstypen auch dann erfolgreicher sind als eher gefühlsorientierte Naturen, wenn es um unethisches Handeln geht. "Sie haben zwar keine stärkere Neigung zum Verbrechen als andere", betont Kokkoris, "doch wenn sie sich dafür entscheiden, sind sie erfolgreicher – einfach weil sie ihre Emotionen besser unter Kontrolle haben." (Doris Griesser, 18.9.2019)