Shalom Lipner war außenpolitischer Berater israelischer Ministerpräsidenten. Im Gastkommentar hält er fest, dass es nicht zur Aufgabe eines US-Präsidenten gehöre, einem bestimmten Segment der Wählerschaft den Status eines "guten Juden" zu verleihen.

In Israel wird am Dienstag gewählt. Benjamin Netanjahu von der Likud-Partei wirbt mit US-Präsident Donald Trump.
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Falls Amerikanern irgendetwas heilig ist, dann ist es die US-Verfassung, das Gründungsdokument, das den Quellcode des Landes enthält. Traurigerweise wird einer der zentralen Bestandteile dieses Codes – der erste Verfassungszusatz – derzeit von einem aggressiven Virus angegriffen, das aus dem Weißen Haus heraus freigesetzt wurde.

Im Jahre 1802 schrieb Amerikas dritter Präsident, Thomas Jefferson, dass die "Religion eine Angelegenheit [sei], die allein zwischen dem Menschen und seinem Gott liegt". Als Beruhigung gegenüber einer Gruppe von Baptisten aus Connecticut, die um ihre religiöse Freiheit fürchteten, wies er darauf hin, dass die Establishment Clause und die Free Exercise Clause "eine Trennmauer zwischen Kirche und Staat" errichtet hätten. Diese Mauer weist inzwischen schwere Risse auf, und zwar aufgrund der Handlungen von Jeffersons zwei letzten Nachfolgern im Amt: Barack Obama und Donald Trump.

Glaubensfragen unter dem Mikroskop

Es ist seltsam – und furchterregend – für Juden, zu sehen, wie amerikanische Präsidenten über "gute" und "schlechte" Juden entscheiden. Die Frage "Wer ist ein Jude?" ist seit langem ein Kernthema der politischen Debatte in Israel, dessen Rückkehrgesetz die Staatsbürgerschaft auf nach Israel einwandernde Juden ausweitet, doch der persönliche Glaube spielt in diesem Diskurs keine Rolle. Dass Glaubensfragen jetzt in den USA unter dem Mikroskop begutachtet werden, ist unerhört. Ob den verantwortlichen Parteien dabei die Interessen des jüdischen Volkes am Herzen liegen oder nicht, ist keine Entschuldigung für dieses Verhalten.

Obamas progressive Agenda passte perfekt zu der liberaler Juden. "Ich habe gehört, die Demokratische Partei sei reformiertes Judentum ohne die Feiertage", witzelte er angeblich hinter der Bühne bei der alle zwei Jahre stattfindenden Konferenz der Union for Reform Judaism im Jahre 2011. "Also, das macht mich zu einem Reformjuden." Die Elastizität und Inklusivität dieser Glaubensrichtung – intern als "mutige Gastfreundschaft" bezeichnet – machte ihre Anhänger zu natürlichen Verbündeten eines Präsidenten mit einer universalistischen Weltsicht. Die zentralen Glaubenssätze des Reformjudentums, dass "alle Menschen im Abbild Gottes geschaffen sind" und dass "wir Gottes Partner bei der Verbesserung der Welt sind" (tikkun olam), passten nahtlos zur Agenda der Regierung Obama.

Wachsende Kluft

Aber das ging an Israel vorbei. 2013, nach vier Jahren der Konfrontation mit der falkenhaften Regierung von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu, stattete Obama Israel seinen ersten Besuch als Präsident ab. In Jerusalem betonte er die Vorzüge des tikkun olam und verwies darauf, dass "auch das Recht des palästinensischen Volkes auf Selbstbestimmung, sein Recht auf Gerechtigkeit, anerkannt werden muss."

Dieser Appell fiel mit einem Dröhnen in die wachsende Kluft zwischen Amerika – einschließlich der rund 75 Prozent amerikanischer Juden, die Obama unterstützten – und Israel. Obamas spätere Bemerkungen, mit denen er 2015 den Jewish American Heritage Month feierte, signalisierten seinen israelischen Kritikern unmissverständlich, dass sie aus seiner Sicht minderwertige Juden seien. "Die Rechte des jüdischen Volkes zwingen mich dann", so schlussfolgerte er, "an ein palästinensisches Kind in Ramallah zu denken, dass sich gefangen und chancenlos fühlt. Das ist, was jüdische Werte mich lehren."

Schamlose Einmischung

Trumps schamlose Einmischung in jüdische Angelegenheiten hat derweil die jüdische Gemeinschaft in den USA in ihrem Kern erschüttert. Beeinflusst von seiner Koterie aus Anhängern des orthodoxen Judentums und des evangelikalen Christentums, hat er sich eine Sicht des jüdischen Volkes und des Staates Israel zu eigen gemacht, in deren Zentrum die heilige Schrift steht und in der die beiden Konzepte regelmäßig verschmolzen werden. In diesem Monat tweetete er einen Dank an Wayne Allyn Root, einen selbsterklärten "zum evangelikalen Christen gewandelten Juden", weil dieser ihn als "den größten Präsidenten für die Juden und für Israel in der Geschichte der Welt" bezeichnet hatte.

Für Trump ist das sine qua non des Judentums die Umsetzung des biblischen Vertrags mit dem jüdischen Volk über das Land Israel. Mit dem Rückenwind seiner religiös-konservativen Basis hat er Jerusalem offiziell als Hauptstadt des modernen Israels und die Golan-Höhen als integralen "Bestandteil des Staates Israel" anerkannt. Er prahlt mit diesen und ähnlichen Handlungen, um sich gegen Vorwürfe des Antisemitismus zu verteidigen. Trumps Behauptung, dass Israel und die Juden nie einen besseren Freund gehabt hätten, fand sogar die Zustimmung von Netanjahus Sohn.

Beleidigende Titulierungen

Zuletzt hat Trump getweetet, dass Rashida Tlaib, eine Demokratische Kongressabgeordnete aus Michigan, "Israel und alle jüdischen Menschen hasst". Nachdem er sie und drei weitere neue weibliche Kongressabgeordnete (alles Mitglieder der sogenannten "Squad") zum "neuen Gesicht der Demokratischen Partei" erklärt hatte, suggerierte er dann, dass die von Obama geschätzten Juden tatsächlich minderwertige Juden seien. "Wenn ihr Demokratisch wählen wollt", verkündete Trump am folgenden Tag, "seid ihr sehr illoyal gegenüber dem jüdischen Volk und sehr illoyal gegenüber Israel".

Die Situation gerät zunehmend außer Kontrolle. Einem bestimmten Segment der Wählerschaft den Status eines "guten Juden" – oder, was das angeht, eines "guten Christen" oder "guten Muslims" – zu verleihen, gehört nicht zur Aufgabe eines US-Präsidenten. Es ist besonders beleidigend, wenn derartige Titulierungen ausschließlich den politischen Verbündeten des Weißen Hauses vorbehalten sind. Gleichermaßen verstörend ist die Tendenz unter Republikanern wie Demokraten, Antisemitismus nur dann zu verurteilen, wenn er von der anderen Partei ausgeht, und so die eigene zynische Gleichgültigkeit gegenüber einer uralten Pest aufzuzeigen.

Die Nutzung des Judentums als Waffe schwächt die USA, Israel und das jüdische Volk. Sie löst die Bande auf – E pluribus unum ("Aus vielen eines") –, die Amerika zusammenhalten, und macht es den USA unmöglich, das Vertrauen internationaler Partner zu gewinnen. Sie gefährdet die unverzichtbare überparteiliche US-Unterstützung für Israel und kompromittiert so die Sicherheit und den Wohlstand des jüdischen Staates. Und sie hat Zwietracht unter den Juden selbst gesät. Amerika braucht keinen "Rabbi-in-Chief". (Shalom Lipner, Übersetzung: Jan Doolan, Copyright: Project Syndicate, 17.9.2019)