Elisabeth strahlte. Obwohl sie schon auch ein wenig mit sich zu hadern schien. "Letztes Jahr", sagte sie, "war ich irgendwo im Mittelfeld – aber heute bin ich die Letzte auf der Strecke." Andererseits hat das Letzte- oder Letztersein auch seine Vorteile: Man hat Begleiter. Bekommt ein Quäntchen mehr Applaus – und kann den Spätsommertag auf der Prater-Hauptallee ein bisserl länger genießen. Elisabeth genoss. Lachte. Und marschierte. Ja, erzählte die 74-jährige ehemalige Mitarbeiterin eines medizinischen Labors, das Gehen – "das Walken" – sei schon wichtig für sie. Jetzt eben Nordic. Und "etwa zwei-, dreimal die Woche". Aber einfach so immer schon. Früher, da sei sie oft und gern gewandert. "Weitwandern hat man damals gesagt."

Foto: thomas rottenberg

Doch mit dem Älterwerden verschieben sich dann irgendwann die Begriffe: "Weit" etwa. "Heute", sagt Elisabeth, "besonders jetzt nach ein paar Verkühlungen und anderen Krankheiten", auf der Prater-Hauptallee fünf Kilometer zügig absolvieren zu können fühle sich auch ganz schön weit an. Natürlich sei das nicht das Gleiche wie früher.

"Aber beim Anmelden habe ich mir gesagt, wenn, dann mache ich gleich die fünf Kilometer. Nicht nur zweieinhalb." Und auch wenn ihre Begleiter auf der letzten Meile – der Mann in der Fahrradrikscha und Anna, die Mitarbeiterin der Wiener Pensionistenklubs – ihr schon jetzt gratulierten, dürfe man den Tag nicht vor dem Abend loben: "Ich hab ja immer noch 300 Meter. Erst dann wird gejubelt."

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Aber der Reihe nach. Natürlich könnte ich in dieser Kolumne diese Woche über einen der "richtigen" Laufevents des Wochenendes schreiben. Über den 6. Vienna Charity Run, den zweiten Lebens-Lauf oder den Rote-Nasen-Lauf Wien etwa. Oder Geschichten aus Kirchberg an der Pielach erzählen, wo unter anderem die österreichischen 10-Kilometer-Straßenlaufmeisterschaften ausgetragen wurden, bei denen sich Julia Mayer und Sandrina Illes ein spannendes Match lieferten und so ziemlich alle Namen vertreten waren, die in Lauf-Österreich eine Rolle spielen.
Oder die Geschichte von meinem Longjog vom Samstag, wo wir zwischen Autotunern und Hitzschlag eine traumhafte 30-Kilometer-Runde bei Wildon in der Steiermark liefen – und dabei nur vergaßen, vorher zu überlegen, ob und wo es unterwegs Wasser geben könnte.

Oder …

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Aber manchmal ist es auch wichtig und richtig, in die andere Richtung zu schauen. Zu Menschen, deren sportliche Aktivitäten gemeinhin nicht einmal (mehr) wahrgenommen werden. Oder höchstens milde belächelt – wenn man ihnen überhaupt noch zutraut, sich sportlich zu betätigen.

Und auch wenn es bei jedem großen Marathon ein oder zwei Läuferinnen und Läufer jenseits der 80 gibt, so wissen wir alle, dass das die Ausnahme der Ausnahme ist:

Natürlich gönne ich es jeder und jedem, die oder der das will. Aber ich weiß auch: Wenn ich mit 75 oder 85 oder – nein, das ist kein Vertipper – 93 noch fünf Kilometer zügig "walken" kann und dabei Spaß und Freude habe, dann habe ich etwas richtig gemacht.

Und genau das taten rund 500 Pensionistinnen und Pensionisten am Montagnachmittag auf der Prater-Hauptallee: Sie gingen – und strahlten. Wo? Beim 3. SeniorInnen Nordic Walking Day.

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Zu dem nordischen Spaziertag hatten die Wiener Pensionistenklubs geladen. Die gibt es, erfuhr ich auf dem ASKÖ-Platz Spenadlwiese (beim Prater, gleich bei der 1er-Schleife), 150-mal in Wien. Und dass ich – noch – nicht Zielgruppe bin, ist kein Grund, mich drüber lustig zu machen: Älter werden wir alle – und mit einem bisserl Glück bedeutet "älter werden" heute ganz etwas anderes als "alt sein".

Alt im Sinne von schwach, krank, senil, permagrantig oder inaktiv. Oder im Abstellwinkerl: Man kann zur Überalterung der Gesellschaft im Allgemeinen und der Wiens im Besonderen stehen, wie man will – daran, dass 70-Jährige heute oft aktiver sind, als es früher 50-Jährige waren, änderte das nichts. Damit so umzugehen, dass niemand sich abgeschoben oder zwangsbeglückt fühlt, ist eine Kunst. Und soweit ich das am Montag mitbekam, gelingt das mit Veranstaltungen wie der Spazierengeherei auf der PHA sehr, sehr gut.

Foto: thomas rottenberg

Dass Formulierungen wie "Spazierengeherei" gerade in diesem Kontext gleich doppelt arrogant und despektierlich klingen, ist mir bewusst. Aber nicht wenige Läuferinnen und Läufer verdrehen die Augen, sobald das "Nordic"-Wort fällt. Meist aus eben den oben angerissenen Gründen: Solange man sich jung und stark fühlt, ist der Stock – noch dazu zwei! – eine Krücke. Etwas für alte Leute. Wenn man aber beim Bergwandern oder Berglaufen selbst Stöcke verwendet, ist das dann natürlich ganz etwas anderes.

Und auch wenn zwischen hartem und hochalpinem Traillaufen, Gebirgstouren und Nordic Walking im Park tatsächlich Welten liegen: Die Funktion des Steckens ist die gleiche – und wer einmal am Berg mit Stöcken unterwegs war, weiß auch, dass man da Muskelgruppen anspricht, die sonst kaum aktiv sind.

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Nordic Walking ist, wenn man es richtig macht, eine hochwirksame Methode fast die gesamte Rumpfmuskulatur in Bewegung bringen. 80 Prozent der Muskeln, habe ich mal wo aufgeschnappt, sind aktiv, wenn man die Stöcke beim Gehen richtig setzt – also nicht einfach hinter sich herschleift.

Kombiniert mit der Low-Impact-Aktivität "Gehen" wird daraus etwas, was dann, wenn Sprung-, Hüft- oder Kniegelenke eben nicht mehr so mitmachen wie früher, wie ein Jungbrunnen wirken kann. Und wer je – auch als Läufer – in eine Geher-Meisterschaft hineinstolperte, wird rasch festgestellt haben, dass "gehen" nicht "langsam sein" heißt. (Ja, auch ich kenne die Malcom-Mittendrin-Folge, in der der Vater zum Geher wird. Hochlustig. Aber Googeln sie dann bitte auch die Zeiten und Geschwindigkeiten von Schnellgehwettbewerben.)

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Freilich: Schnellgehen hat mit Nordic Walking im Allgemeinen und dem Montagsbewerb im Prater im Speziellen nichts zu tun.

Denn hier ging es ganz ausdrücklich nicht um Leistungssport. Sondern eben um Gesundheit. Und genau genommen nicht einmal darum (zumindest nicht als erste Headline), sondern um gemeinsames Aktivsein. Um Bewegung an der frischen Luft. Ums Auslüften – und um das gelebte und gefeierte Gefühl, eben kein "altes Eisen" zu sein.

(Und ja, der Herr rechts im Bild ist Sportreporter-Legende Sigi Bergmann.)

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Als echter Wiener weiß ich, wovon ich rede, wenn ich vom typischen Wiener Pensionistengrant spreche. Nur war davon weder vor noch während noch nach der Walkerei auch nur ein Hauch zu spüren: Da wurde gelacht, geblödelt, gescherzt und geschwitzt.

Natürlich auch geflucht und gelitten, hart und ehrgeizig gekämpft und empört "Ned laufen – gehen!" gebrüllt, wenn ein Widersacher so locker vorbeizog, als säße man selbst auf der Parkbank.

Foto: thomas rottenberg

Aber es war anders. Anders als im Bus, im Supermarkt oder sonst wo im Alltag: Sogar beim Raunzen war da immer ein Lächeln. Meist nicht nur im Augenwinkel – sondern im ganzen Gesicht. Und auch den Stolz auf das, was man gerade tat oder soeben vollbracht hatte, konnte man an den Mienen und strahlenden Augen ablesen.

Edith, die Dame im Bild, zum Beispiel wurde heuer zweite Dame auf den fünf Kilometern. Der Siegerin gratulierte sie herzlich. "Nächstes Jahr sieht's vielleicht anders aus: Ich bin ja gestern im Türkenschanzpark 33 Kilometer gegangen." Dort war am Sonntag der Vienna Charity Run: "Na, sicher war ich dort. Das war superschön – und da waren heuer so viele Leute (1.800 Anm.), dass den Veranstaltern die Teilnehmersackerln ausgegangen sind. Super! Sie haben gesagt, dass alle, die heuer keines bekommen haben, nächstes Jahr zwei kriegen."

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Zurück auf die Hauptallee: Um Menschen in Bewegung glücklich zu machen, braucht ein Bewerb gar nicht ausgefuchst oder besonders "g'feanst" zu sein: Gegangen wurden hier entweder eine oder zwei 2,5-Kilometer-Runden. Gewertet in Männer- und Frauenkategorien (wobei hier fast umgekehrte Triathlon-Langdistanz-Geschlechterverhältnisse herrschten: 90 Prozent Frauen standen zehn Prozent Männern gegenüber). Und in Altersklassen: Ü60, Ü70 und Ü80.

Die älteste Teilnehmerin, Renée, war Jahrgang 1927, der älteste Mann im Feld, Willi, noch ein Jahr älter. Alle gingen aus eigener Kraft – auch wenn bei einigen wenigen, vor allem schlecht Sehenden sicherheitshalber Begleiter mitgingen: Stolpern und stürzen will man mit über 80 tunlichst nicht.

Foto: thomas rottenberg

All das nötigt mir höchsten Respekt ab: Ich kenne etliche 40-Jährige, für die die 5k-Siegerzeit von Alfred (etwas mehr als 37 Minuten) eine echte Challenge wäre – und nein, das sind wahrlich nicht ausschließlich Couch-Existenzen und Sich-gar-nicht-Beweger.

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500 rüstige Rentner an einem sonnigen Montagnachmittag fröhlich durch den Prater wuseln zu sehen ist fein. Macht Mut – und nimmt auch ein wenig die Angst vor dem, was man selbst für Vorstellungen von jener Zukunft hat, auf der für einen selbst irgendwann unweigerlich auch "alt" steht: weil es eben auch anders als bitter und gelangweilt geht, wir das aber viel zu selten sehen. Sei es, weil wir nicht hinsehen wollen, sei es, weil sich fröhliches, aktives Ältersein so selten zeigt. Oder außerhalb der Zielgruppe gezeigt wird.

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Aber da ist noch etwas. Irgendwann kam ich mit einem Mitarbeiter am Streckenrand ins Gespräch: Wir sind gleich alt, haben unsere wilden Jahre in den gleichen Lokalen verbracht und waren hier und heute von der positiven und fröhlichen Energie beide begeistert.

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Dennoch nagte da etwas: 500 Senioren, meinte der Bekannte von früher, seien "doch eigentlich nicht viel". Schließlich finde der Bewerb heuer schon zum dritten Mal statt – und jeder und jede über 60 dürfe mitmachen: "Da müssten doch Tausende kommen! Gerade in Wien!"

Wir wussten aber beide, warum das nicht so ist: "Würde deine Mutter hier mitmachen?" – "Sicher nicht!" – "Meine auch nicht. Die würde mir auch den Kopf abreißen, wenn ich ihr das vorschlage." – "Oder wenn ich sie anmelde: Dann verstößt sie mich." – "Detto." – "Und wir wissen ja auch, wieso: Das ist ein Seniorenevent." – "Genau: Was für alte Leute – aber alt sind immer nur die anderen." (Thomas Rottenberg, 18.9.2019)

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