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Nahe der "Kontaktgrenze" liegen Häuser noch immer in Trümmern. Täglich fallen Schüsse. Das UNHCR kommt mit dem Wiederaufbau nicht nach.

Foto: REUTERS/Alexander Ermochenko

Dreimal schon wurde die 90-jährige Frau in Sicherheit gebracht, dreimal kehrte sie in die Gefahrenzone zurück. Sie will ihr Haus nahe der sogenannten "Kontaktgrenze" in der Ostukraine nicht verlassen – es ist ihr Zuhause, ihr Mann liegt auf dem nahen Friedhof begraben. Die Grenze trennt die von der Regierung in Kiew kontrollierten Gebiete in der Ostukraine von jenen, die von den prorussischen Separatisten besetzt werden. Auch fünf Jahre nach Ausbruch des Kriegs stehen Schusswechsel und Bombenabwürfe an der Tagesordnung – obwohl eigentlich Waffenstillstand zwischen den Kriegsparteien herrscht.

Das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR ist entlang der mehr als 500 Kilometer langen "Kontaktgrenze" tätig, sorgt sich vor allem um den Wiederaufbau zerstörter Häuser und unterstützt jene Menschen, die zurückgeblieben sind. Fast die Hälfte aller Personen, die sich innerhalb von 20 Kilometern auf jeder Seite der Grenze befinden, sind älter als 60 Jahre. Viele von ihnen leiden unter chronischen Krankheiten, ihre Kinder sind aufgrund mangelnder Zukunftsperspektiven geflohen, erzählt die Chefin des UNHCR-Einsatzes in der Ukraine, Noel Calhoun. Doch nicht immer sind sie so unnachgiebig, wenn es um ihre Umsiedlung geht, wie in dem zuvor erwähnten Fall.

Die "Kontaktgrenze" ist mehr als 500 Kilometer lang.
Grafik: Standard

Mit dem Hahn in Sicherheit

Calhoun berichtet von einer weiteren älteren Frau, die in ihrem zerstörten Haus nahe der Gefahrenzone lebte. Das Flüchtlingshilfswerk konnte es nicht wiederaufbauen – zu hoch war die Wahrscheinlichkeit, dass es durch den nächsten Beschuss wieder in Mitleidenschaft gezogen würde. Also suchten UNHCR-Mitarbeiter für die Frau einen Platz in einem Heim in sicherer Entfernung. Die Frau willigte ein zu gehen – doch nicht ohne ihren Hahn, der ihr Begleiter und Ansprechpartner war. Nach weiteren Verhandlungen mit der Unterbringung konnte auch der tierische Freund umziehen.

Es sind Geschichten wie diese, die Calhoun als Beispiel für die noch immer anhaltende humanitäre Notlage in der Ostukraine aufzählt. Bäume, die sich im Sommer unter Mengen an reifem Obst biegen, weil niemand mehr da ist, um es zu ernten. Oder jene 80 Prozent der Menschen, die an der "Kontaktgrenze" leben, die Angst vor den Schüssen in der Nacht haben. "Das bedeutet, dass die überwältigende Mehrheit seit Jahren keinen ruhigen Schlaf gefunden hat", sagt Calhoun. Noch immer gab es im Monat Juli rund 19.500 Verletzungen der Waffenruhe laut dem Kontrollorgan OSZE.

Drohende Budgetkürzungen und ein Finanzierungsaufruf, der für heuer erst knapp zur Hälfte erfüllt ist, bedrohen die UNHCR-Aktivitäten in der Region. Und dabei schätzen die Vereinten Nationen, dass noch immer mehr als 800.000 Menschen innerhalb der Ukraine auf der Flucht sind. Sie brauchten vor allem eine dauerhafte Bleibe, so die UNHCR-Chefin. Denn viele von ihnen würden Unterkünfte zu horrenden Preisen mieten und dabei nicht einmal schriftliche Verträge, sondern nur mündliche Abmachungen erhalten.

Fehlende Geburtsurkunden

Ein Problem der Zukunft wird laut Calhoun die drohende Staatenlosigkeit neugeborener Kinder in der Konfliktregion sein: "Weniger als die Hälfte der Babys, die in den Gebieten geboren wurden, die nicht unter Regierungskontrolle stehen, haben eine ukrainische Geburtsurkunde erhalten." Die anderen erhalten ein Dokument von nicht anerkannten Teilrepubliken. "Was passiert mit diesen Kindern in der Zukunft?", fragt Calhoun in rhetorischer Art und Weise. Es ist unsicher, wie sie später einen Schulplatz oder eine Ausbildungsstelle erhalten sollen. Ebenso unklar ist, wie bereits jetzt staatenlose Menschen in der Ukraine an ihre Dokumente kommen.

Laut der UNHCR-Chefin geht es vor allem um Personen, die im ruralen Gebiet wohnen und teilweise noch immer einen sowjetischen Reisepass oder überhaupt keine offiziellen Dokumente besitzen. "Bis jetzt war es nicht wichtig, dass sie diese haben", sagt Calhoun: "Doch nun gibt es Militärcheckpoints, an denen sie Ausweise herzeigen müssten, und so sind sie in ihren Dörfern eingeschlossen."

Hoffnung auf ein Ende des Konflikts gab es Anfang September durch einen Gefangenenaustausch zwischen der Ukraine und Russland. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron will in den kommenden Wochen erneut bei Gesprächen zwischen den beiden Staaten assistieren. Diese sollen in Paris stattfinden. Wie erfolgversprechend diese sind, ist fraglich. Immerhin sind vier Klagen der Ukraine gegen Russland vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg anhängig, in denen es um den mutmaßlichen Einmarsch russischer Truppen geht. Moskau weist jede Schuld von sich. (Bianca Blei, 18.9.2019)