Hamburg – Juan Moreno möchte keine Fragen mehr beantworten, wie er dem Reportagenfälscher Claas Relotius auf die Schliche kam, dem vielfach prämierten Starautor des Spiegel, für den auch Moreno als freier Journalist arbeitet. Keine Fragen mehr, wie bei dem Nachrichtenmagazin keiner hören wollte, was er über Relotius' Erfindungen herausgefunden hatte. Bis die Wahrheit über die Fälschungen nicht mehr wegzuwischen war. Deshalb hat Moreno ein Buch geschrieben über "das System Relotius und den deutschen Journalismus", über einen notorischen Lügner und Hochstapler, nicht nur als Journalist.

Seit Dienstag im Handel: Juan Morenos Buch über Reportagenfälscher Claas Relotius, erschienen bei Rowohlt.
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Mehr als 60 Texte hat Relotius allein für den Spiegel geschrieben (und für einige andere renommierte deutsche Blätter), nur ausnahmsweise kamen sie ohne Fälschungen aus. Mehr als 40 Journalistenpreise hat er bekommen, viermal in Serie den deutschen Reporterpreis. Bald sollte er Ressortleiter werden.

Warum warst du nicht da?

Ein Reportageauftrag an Relotius und Moreno brachte den freien Journalisten auf die Spur des Fälschers. Relotius schrieb über eine rechte Bürgerwehr an der US-Grenze zu Mexiko, Moreno sollte einen Flüchtlingstreck von Mexiko in die USA begleiten. Die beiden Organisatoren der Mini-Bürgerwehr verdienen ihr Geld mit Touren für selbsternannte Grenzschützer – und Interviews mit Medien. Warum schreibt Relotius über die AZBR eine Reportage, "ohne je vorbeizukommen und mit ihnen zu reden?", herrscht eine Organisatorin Relotius per Mail am 3. Dezember 2018 an. Am selben Abend bekommt er den nächsten Reporterpreis. Zwei Wochen später geht der Spiegel mit Morenos Recherchen an die Öffentlichkeit.

Beim "Spiegel" stießen Morenos Recherchen über Claas Relotius' Fälschungen zunächst auf Widerstand.
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Mehr sein wollen als Arbeiter im Textbergwerk

Relotius Enttarnung schien die vor allem von weit rechts auf die Branche einprasselnden "Lügenpresse"-Rufe zu bestätigen. Medienwissenschafter Bernhard Pörksen hat Morenos Tausend Zeilen Lüge für die Neue Zürcher rezensiert und kommt zum Schluss: Relotius sei keineswegs typisch für die Branche, für den Journalismus: Er "offenbart die offene Flanke und die Korrumpierbarkeit des Star- und Edelfederjournalismus – eines Mini-Segments, das traditionell viel Aufmerksamkeit bekommt. Denn deutlich wird: Ein Claas Relotius, Prototyp des sensiblen Schönschreibers, macht jenen, die unbedingt mehr sein wollen als einfache Arbeiter im Bergwerk der Textproduktion, das Angebot der Selbsterhöhung. Er lässt sie Teil einer Bewunderungsgemeinschaft werden, einer narzisstischen Blase, in der man sich im Rausch eines existenziellen Pathos wechselseitig zu bestätigen vermag, wie herrlich bedeutend man doch ist oder zumindest sein könnte."

Erwartungen und Bedürfnisse

Relotius' warme, tröstende Reportagen schienen die Lösung für eine zutiefst verunsicherte Branche zu sein, die um jeden Leser kämpft, schreibt Moreno. Diese Reportagen, das zeigten viele Leserbriefe, erfüllten ihre Erwartungen und Bedürfnisse. Über seinen Reportagen "schwebte ein Erlösungsversprechen – für Leser und letztlich für den Journalismus".

Für beide gilt: Man muss Wahrheit auch wissen wollen. (fid, 17.9.2019)