Bild nicht mehr verfügbar.

Die Fähigkeiten und Chancen eines Menschen per EDV-Programm einzustufen ist nicht jedermanns Sache.

Foto: Getty

Passend zum Wahlkampffinale gibt es ein neues Thema für alle sozial- und wirtschaftspolitisch interessierten Parteien und Bürger. Es lautet: Wie soll die Förderung von Arbeitslosen künftig aussehen in Österreich, und welche Rolle dürfen Algorithmen bei der Beurteilung von Menschen haben?

Der Vorstand des Arbeitsmarktservice (AMS) hat am Dienstag grünes Licht vom Verwaltungsrat für die Implementierung seines Algorithmus bekommen. Ebenfalls Zustimmung gab es in dem Gremium, dem Arbeitgeber, Arbeitnehmer und Regierungsvertreter angehören, für die flächendeckende Implementierung einer neuen Form der Betreuung für Menschen mit sehr schlechten Chancen am Arbeitsmarkt.

"Naiver Dammbruch beim AMS"

Die Entscheidung führte prompt zu heftiger Kritik. Sarah Spiekermann-Hoff, Leiterin des Instituts für Wirtschaftsinformatik und Gesellschaft an der WU Wien, spricht von einem "naiven und negativen Dammbruch" beim AMS. Ein Algorithmus habe nur "eine sehr beschränkte Fähigkeit, Menschen zu beurteilen". Mithilfe des Algorithmus werden die Chancen von Jobsuchenden beurteilt. Das System teilt die Menschen in drei Gruppen ein, jene mit guter, mittlerer und schlechter Perspektive. Ab 2020 wird die Einteilung in diese drei Segmente mitentscheidend dafür sein, welche AMS-Förderungen für einen Arbeitslosen infrage kommen.

Spiekermann-Hoff sagt, dass es eine Fehlannahme sei zu glauben, dass ein Algorithmus objektiv bewertet, weil institutionelle Vorurteile im Programm festgeschrieben sind. Nicht beruhigen kann sie auch die Ankündigung von AMS-Chef Johannes Kopf, der im Algorithmus eine "Hilfestellung" für AMS-Mitarbeiter sieht. Kopf sagt, dass die finale Beurteilung von Jobsuchenden weiter bei AMS-Beratern liegen wird. Gibt der Algorithmus einem Arbeitslosen schlechte Chancen, kann der AMS-Betreuer das künftig ändern und den Betroffenen hochstufen.

Wer widerspricht?

Spiekermann-Hoff dazu: Studien hätten gezeigt, dass sich Menschen schwer damit tun, Maschinen zu widersprechen. Die AMS-Führung müsste schon ein System etablieren, das für Betreuer einen Anreiz schafft, anders als der Algorithmus zu entscheiden.

Der Algorithmus des AMS beurteilt die kurzfristigen und die langfristigen Perspektiven am Jobmarkt. Beide Berechnungen zusammen ergeben die Einteilung für den Einzelnen. Kurzfristig bedeutet, wie die Chancen stehen, binnen sieben Monaten wieder einen Job für drei Monate zu finden. Als Grundlage für die Berechnung der Wahrscheinlichkeiten dient ein junger, gesunder Mann mit österreichischer Staatsbürgerschaft, der im Dienstleistungsbereich arbeiten will und nur über einen Pflichtschulabschluss verfügt. Wohnhaft ist dieser Mann an einem Ort mit niedriger Arbeitslosigkeit. Diese fiktive Person hat eine 52-prozentige Chance, rasch wieder Arbeit zu finden.

Frauen über 50 benachteiligt

Wird ein realer Mensch beim AMS vorstellig, startet die Chancenberechnung auf Basis individueller Merkmale. Bleibt alles gleich wie im Beispiel, wird aber eine Frau vorstellig, gibt ihr das System nur eine 49-prozentige Chance auf rasche Vermittlung. Eine wichtige Rolle spielt das Alter. In der Gruppe 50 plus liegt die Wahrscheinlichkeit auf rasche Vermittlung bei nur 35 Prozent. Wird eine über 50-jährige Frau bewertet, ergibt das einen doppelten Abzug. Ihre Chancen liegen im Modell bei nur 32 Prozent.

Wer schlechte Chancen hat, kurzfristig was zu finden, die Wahrscheinlichkeit also bei unter 66 Prozent liegt, aber langfristig gute Perspektiven hat unterzukommen, wird dem mittleren Segment zugeteilt. Weil dabei Variablen wie Geschlecht oder Staatsbürgerschaft eine Rolle spielen, sprechen Kritiker wie Spiekermann-Hoff von festgeschriebener Diskriminierung.

Weniger Zwang

Johannes Kopf sieht das anders: In der Gruppe der Arbeitslosen mit mittlerer Perspektive seien Frauen überrepräsentiert, ihr Anteil in dieser Gruppe ist also höher als unter allen Arbeitslosen. Das ist relevant für Förderungen: Das AMS will künftig vor allem auf die mittleren Gruppe fokussieren. Davon würden Frauen also de facto besonders stark profitieren, so Kopf.

Auch an diesem Teil der Strategie, also am Fokus auf die mittlere Gruppe, gibt es Kritik. Für Menschen mit schlechter Perspektive werden nämlich neuartige Betreuungsangebote, die bisher getestet wurden, 2020 ausgebaut. In diesen Betreuungszentren gilt weniger Zwang: Betroffene bekommen Angebote, um sich sozial zu integrieren, müssen aber keine AMS-Kurse besuchen. Im Gegenzug zur Praxis im Zuge der Tests sollen die Menschen aber sehr wohl verpflichtet sein, sich zu bewerben.

25 ist die Grenze

"Die Gefahr ist, dass Menschen in diesen Betreuungseinrichtungen auf dem Abstellgleis landen", sagt Judith Pühringer, Chefin von Arbeit plus, einem Netzwerk gemeinnütziger Unternehmen. Denn in der dritten Gruppe stehen künftig nicht alle AMS-Förderinstrumente zur Verfügung. Pühringer warnt, dass eine effektive Reintegration gar nicht versucht werde. Fix zu sein scheint, dass Menschen unter 25 nie in der dritten Gruppe landen, weil hier die Ausbildungsgarantie gilt. Aber was ist mit 30-Jährigen, die Pech im Leben hatten – sind diese Menschen nicht im Nachteil?

Kopf sagt dazu, dass es Zielvorgaben geben wird, wie viele Menschen in den niederschwelligen Zentren jedes Jahr stabilisiert und dann wieder besser bewertet werden müssen. Damit würden diesen Menschen wieder alle Förderinstrumente zur Verfügung zustehen. (András Szigetvari, 17.9.2019)