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In der Stichwahl um das Präsidentenamt stehen mit Kaïs Saïed und Nabil Karoui zwei Außenseiter.

Foto: REUTERS/Zoubeir Souissi

Das Endergebnis der ersten Runde der Präsidentschaftswahl in Tunesien vom Sonntag ist nicht weniger als ein politisches Erdbeben. Ein schlechtes Abschneiden der aus den Reihen etablierter Parteien stammenden Kandidaten war zwar erwartet worden, doch in der Stichwahl im Oktober stehen sich nun gleich zwei Außenseiter gegenüber. Überraschend holte der für seine ultrakonservativen Ansichten bekannte parteilose Verfassungsrechtler Kaïs Saïed mit 18,4 Prozent der Stimmen das beste Ergebnis, gefolgt von dem aufgrund einer Anklage wegen Steuerhinterziehung und Geldwäsche seit August inhaftierten Medienmogul Nabil Karoui, der auf 15,6 Prozent der Stimmen kam.

Der Kandidat der gemäßigt islamistischen Ennahda-Partei, Abdelfattah Mourou, landete mit 12,9 Prozent auf Platz drei und der wirtschaftsliberal-säkulare Premierminister Youssef Chahed mit 7,4 Prozent abgeschlagen auf Platz fünf. Sämtliche Kandidaten linker oder liberaler Parteien fuhren mit ihren eingestaubten Diskursen krachend gegen die Wand. Nur der linksliberale Mohamed Abbou erzielte mit 3,6 Prozent immerhin einen Achtungserfolg.

Vernachlässigtes Hinterland

Damit strafte Tunesiens Wählerschaft politische Eliten und Parteien in beispielloser Manier ab, hatten sich diese doch als unfähig erwiesen, dringende sozioökonomische Probleme im strukturell vernachlässigten Hinterland anzupacken.

Das Wahlergebnis ist jedoch nur bedingt als Protestwahl einzuordnen, denn hinter Saïeds gutem Abschneiden könnte mehr stecken als nur Frustration über die politische Klasse.

Karoui und Saïed setzten beide auf eine Anti-Establishment-Rhetorik, ihre Forderungen und die Ausgestaltung ihrer Wahlkampagnen hätten jedoch gegensätzlicher nicht sein können. Während Karoui – mit seinem TV-Sender Nessma im Rücken – auf einen lauten, schrillen und populistischen Wahlkampf setzte, vernahm man von Saïed nur leise Töne. Wenn überhaupt. Denn in traditionellen Medien und sozialen Netzwerken glänzte er mit Abwesenheit. Hinter ihm steht keine Partei und keine Wirtschafts- oder Staatslobby. Ein richtiges Wahlkampfteam berief er ebenso wenig ein wie einen Pressesprecher. Geldmittel standen ihm kaum zur Verfügung, auch staatliche Wahlkampfhilfen lehnte er ab. Stattdessen setzte er auf einen Häuserwahlkampf, gilt als unbestechlich, aber aufgrund seines intellektuellen und drögen Habitus auch als schwer verständlich. Obwohl er in allen Wahlumfragen im Sommer eine beachtliche Zustimmung erzielte, hatte ihn kaum jemand auf dem Zettel. Die Umfragen wurden massiv unterschätzt.

Volksnaher Konservativer

Saïeds beachtliches Ergebnis dürfte auf sein inhaltliches Profil und seine Volksnähe zurückzuführen sein, mischte er sich doch im Gegensatz zu Karoui wirklich unter die Leute. Selbst in Tunesiens Presse wurden bisher meist nur seine ultrakonservativen Positionen diskutiert, die ihm zweifelsfrei Zuspruch in konservativen Wählerschichten einbrachten, aber seinen Erfolg allein nicht erklären können. Weniger Beachtung fanden bisher seine Forderungen nach radikalen politischen Reformen, die auf Elementen der direkten Demokratie und der Dezentralisierung der politischen Macht aufbauen. Die Parlamentswahl will er abschaffen, Parlamentsabgeordnete stattdessen von lokal gewählten Volksvertretern wählen lassen. Kurz gesagt: Saïed will die politische Macht in die Provinzen transferieren. Diese Mischung aus gesellschaftspolitischem Realismus – Tunesien gilt als liberal, das Hinterland ist aber konservativ – und radikaler politischer Reform dürfte ihn in die Stichwahl gespült haben, bei der er nun als Favorit gehandelt wird. (Philip Sofian Naceur, 18.9.2019)