Es gehört zu den Tücken des Wahlkampfes, dass in der allgemeinen Aufgeregtheit der Blick fürs Wesentliche verlorengehen kann. Da braucht es spezielle Beobachter, die nicht nur den Wald vor lauter Bäumen, sondern auch den Skandal vor lauter Skandälchen sehen. Ein beeindruckendes Beispiel dafür lieferte in der Vorwoche die Tageszeitung "Die Presse". So verblüffte "Presse"-Kolumnist Karl-Peter Schwarz mit einer völlig neuen Sichtweise der Affäre um Ursula Stenzels Teilnahme an einem Fackelzug der Identitären: "Nicht dass Stenzel auf der Kundgebung war, ist der Skandal, sondern dass sonst kein Politiker dort war."

Fürwahr ein Skandal, der von praktisch allen anderen bislang komplett ignoriert wurde. Ein solcher Perspektivenwechsel könnte uns auch bei anderen, sogenannten Skandalen helfen, die wahren Skandale dahinter zu erkennen.

Kundgebung der Identitären-Bewegung in Wien.
Foto: APA/EXPA/MICHAEL GRUBER

So zum Beispiel bei der "Ibiza-Affäre". Ist nicht H.-C. Strache im Video sich offenbarende Bereitschaft zur Korruption nur ähnlich schockierend wie es eine Ankündigung Keith Richards wäre, er habe vor, einmal einen Joint zu rauchen? Und liegt nicht der wahre Skandal viel eher darin, dass der Ex-Vizekanzler ganz alleine über die Zukunft der "Kronen Zeitung" verhandeln musste, ohne dabei Unterstützung von Seiten der durch Abwesenheit glänzenden Herausgeberfamilie zu bekommen? Ganz abgesehen vom geballten Sexismus, der sich nach Veröffentlichung des Videos über Strache (Bodyshaming!) und Gudenus (Mindshaming!) ergoss.

Wem dafür einmal die Augen geöffnet wurden, sieht fortan viele Dinge anders.

Anti-Mainstream-Logik

Der wahre Skandal der planmäßig illegalen Wahlkampfkosten-Überschreitung durch die ÖVP liegt darin, dass wir in einem Land leben, in dem man so viel Geld aufwenden muss, um den Menschen klar zu machen, wer und was gut für sie ist. In Wahrheit müssten all jene Bürgerinnen und Bürger, die noch nicht an die ÖVP gespendet haben, für ihre Sierigkeit zur Verantwortung gezogen werden.

Im Weiteren ist die verleumderische Diffamierung Florian Klenks durch Michael Jeannee wohl weniger skandalös, als die Ignoranz der über Jeannee Empörten gegenüber der tragischen Tatsache, dass die völlige Devastiertheit einer dauerfeuchten Boulevard-Ruine dazu geführt hat, dass dort schon lange niemand mehr zu Hause ist.

Und wenn intellektuelle Singularitäten der heimischen Innenpolitik wie August Wöginger oder Georg Dornauer mit der Identitären-Fan-Zeitschrift "Info-Direkt" plaudern, dann ist der wahre Skandal, dass vergleichbare Medien wie "Der Landser", "National-Zeitung" oder Gottfried Küssels "Alpen-Donau.info" noch immer auf Interviews warten müssen.

Wer nicht vermag, dieser alternativen Anti-Mainstream-Logik zu folgen, kann immerhin noch nachfragen, ob die Forderung nach der Pflichtteilnahme von Politikern an von Rechtsextremen organisierten Fackelzügen der größere Skandal ist, als das Erscheinen solcher dreisten Identitären-Propaganda in einer sich selbst gern als "bürgerlich" bezeichnenden Tageszeitung. (Florian Scheuba, 18.9.2019)