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Pawel Ustinow bei seinem Prozess.

Foto: REUTERS/Evgenia Novozhenina

Wegen gefährlicher Körperverletzung hat das Moskauer Bezirksgericht Twerskoi Pawel Ustinow zu dreieinhalb Jahren Haft verurteilt. Ustinow soll sich bei der Protestaktion gegen den Ausschluss oppositioneller Kandidaten von der Wahl zur Stadtduma seiner Festnahme widersetzt und dabei einem Polizisten den Arm ausgekugelt haben.

Kurzer Prozess

Der Prozess nahm gerade einmal zwei Tage in Anspruch, wobei am zweiten Tag Richter Alexej Kriworutschko nur noch das Urteil verlas: "Das Gericht hat festgestellt, dass Pawel Ustinow am 3. August gegenüber einem Beamten der Nationalgarde lebensgefährliche Gewalt angewendet hat, indem er den Obersergeanten Alexander Ljagin am Schultergelenk des linken Arms zog", erklärte Kriworutschko, der dem Angeklagten zugleich vorwarf, den Beamten mit seinen Handlungen "erniedrigt" und ihm "moralisches Leid" zugefügt zu haben.

Der Richter folgte in seiner Begründung damit weitgehend den Ausführungen der Staatsanwalt, lediglich das geforderte Strafmaß von sechs Jahren milderte er wegen des ansonsten tadellosen Lebenslaufs Ustinows etwas ab. Die Zeugen der Verteidigung, die aussagten, der 23-Jährige habe sich weder gewalttätig seiner Festnahme widersetzt noch überhaupt an den Protesten teilgenommen und Losungen gerufen, bewertete der Richter als unglaubwürdig.

Solidarität

Ein Video, das den Moment der Festnahme zeigt, ließ er erst gar nicht als Beweismittel zu. Dabei war auf diesem Video gut zu erkennen, wie sich die Nationalgardisten auf einen jungen Mann stürzen, der nichts weiter getan hat, als vor der U-Bahn-Station in sein Telefon zu schauen, und bei seiner Festnahme nichts weiter tut, als – erschrocken von der Meute – mehrere Schritte zurückzuweichen, ehe er überwältigt wird und die Polizisten auf den am Boden Liegenden einschlagen. Tatsächlich stürzt im Eifer des Gefechts auch einer der Beamten, was aber wohl kaum als "lebensgefährlicher Angriff" Ustinows gewertet werden kann. Zudem ist in dem Video gut zu erkennen, dass der Beamte selbst nach dem Sturz seinen linken, "ausgekugelten" Arm problemlos bewegen kann.

Oleg Kozlovsky

Wenn das Ziel der Verurteilung – wie auch gegenüber anderen Teilnehmern der Proteste – in Abschreckung bestand, so hat es seinen Zweck verfehlt: In der Öffentlichkeit ist der Richterspruch auf Empörung gestoßen. Viele Schauspielerkollegen Ustinows, Regisseure, aber auch Musiker und Journalisten riefen zur Solidarität mit dem Angeklagten auf, sprachen von einem Fehlurteil.

Flashmob

Der landesweit bekannte Parodist und Moderator Maxim Galkin sprach von "einem kolossalen Reputationsverlust" durch das Urteil für die russischen Gerichte, die Nationalgarde, aber auch die Obrigkeit, die das Urteil forciert habe. Bekannte Kinoschauspieler wie Jewgeni Stytschkin, Pawel Derewjanko, Artur Smoljaninow, Julia Peressild und Taissija Wilkowa forderten zu Protesten gegen die ihrer Ansicht nach zu Unrecht verhängte Haftstrafe auf.

Viele Künstler erinnerten an die Solidarität, als im Sommer dem Investigativjournalisten Iwan Golunow mit untergeschobenen Drogen der Prozess gemacht werden sollte, das Verfahren jedoch durch den breiten Protest der Medien zusammenbrach. Gleiches sollte auch für Ustinow – und die anderen wegen der Proteste bereits Verurteilten – zu erreichen sein, meinten sie in ihrem Flashmob.

Der Protest schaffte es sogar ins Abendprogramm des staatlichen Fernsehens. Der Comedian und Moderator Iwan Urgant begann seine Show mit einem sarkastischen Verweis auf die Ustinow-Affäre und kritisierte die Weigerung des Richters, das Entlastungsvideo als Beweismaterial zuzulassen. Am Ende gebe es aber noch höhere Instanzen, vor denen das Urteil aufgehoben werden könne – und sei es das Jüngste Gericht, spottete er.

Proteste

Am Mittwoch wechselten sich dann dutzende Künstler bei einer Aktion vor der Präsidialadministration ab, um den Protest deutlich zu machen. Doch nicht nur Kollegen Ustinows wurden laut. 78 Priester der als obrigkeitstreu bekannten russisch-orthodoxen Kirche haben die Urteile nach den Moskauer Protesten (insgesamt wurden bereits sechs Menschen zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt) als unverhältnismäßig hart kritisiert und Milde gefordert.

Und es gibt Anzeichen, die auf einen Rückzieher der Obrigkeit hindeuten: Kremlsprecher Dmitri Peskow äußerte sich zwar zurückhaltend gegenüber der Solidarisierungsaktion. Die Proteste richteten sich an die falsche Adresse, da der Präsident nicht zuständig sei, sagte er, bekannte aber, dass sie im Kreml zur Kenntnis genommen wurden. Der Generalsekretär der Kremlpartei Einiges Russland, Andrej Turtschak, hingegen lehnte sich weiter aus dem Fenster und sprach von einer "himmelschreienden Ungerechtigkeit", die Ustinow widerfahren sei.

Gleichzeitig wurde bekannt, dass ein anderes Moskauer Bezirksgericht am Mittwoch einen ähnlichen Prozess gegen einen Teilnehmer der Proteste abgewiesen hat. Dem Angeklagten sei das Recht auf faire Verteidigung genommen worden, sagte der Richter und forderte eine Neuaufnahme der Ermittlungen. (André Ballin aus Moskau, 19.9.2019)