Ungarn vor zehn Millionen Jahren: Eine Rudapithecus-Familie geht ihren Alltagsgeschäften nach.
Illustration: John Sibbick

Ungarn ist sicher nicht das erste Land, das einem einfallen würde, wenn man auf der Suche nach Spuren wildlebender Menschenaffen ist. Doch dort wurden die Fossilien einer Spezies gefunden, die vor etwa zehn Millionen Jahren lebte, als Mitteleuropa noch von subtropischen Wäldern bedeckt war. Dieser Primat, Rudapithecus hungaricus, könnte nun zu neuen Einblicken in die Evolution des Menschen verhelfen.

Die Menschenartigen

Dazu muss man zunächst ein gutes Stück in die Vergangenheit zurückgehen. Vor etwa 25 bis 20 Millionen Jahren trennten sich die sogenannten Menschenartigen (Hominoidea) von den übrigen Affen ab. Menschenartige sind im Schnitt größer und intelligenter als ihre äffische Verwandtschaft. Der sichtbarste Unterschied ist aber, dass sie keinen Schwanz haben.

Die Menschenartigen umfassen heute die Gibbons und die Menschenaffen im engeren Sinne; letzteres inklusive des Homo sapiens. Das sind nur etwa zwei Dutzend Arten – lange Zeit war die Vielfalt jedoch wesentlich größer. Forscher gehen sogar davon aus, dass es in der Alten Welt – Afrika, Asien und Europa – einst mehr Menschenartige gab als geschwänzte Affen: das komplette Gegenteil der heutigen Verhältnisse.

Der erstmals 1969 beschriebene Rudapithecus hungaricus, benannt nach dem Fundort Rudabánya in Nordungarn, war ein Vertreter dieser vergangenen Vielfalt. Er war deutlich kleiner als heutige Menschenaffen, etwa so groß "wie ein mittelgroßer Hund", sagt Carol Ward von der Universität Missouri. Sie hat mit ihrem Team die Beckenknochen von Rudapithecus untersucht und mit denen von anderen Menschenartigen verglichen.

Beckenknochen – hier ein Exemplar von Rudapithecus – sind besonders informativ, sagt die Biologin Carol Ward. Sie ermöglichen Rückschlüsse auf die Beweglichkeit und damit das Verhalten.
Foto: Carol Ward

Das führte zu einem interessanten Ergebnis: Der untere Rückenbereich war bei Rudapithecus verhältnismäßig länger und flexibler als bei den heutigen Menschenaffen – mit einer einzigen Ausnahme: nämlich uns. Die Konsequenz daraus wäre, dass es auch Rudapithecus leicht gefallen sein müsste, auf zwei Beinen zu laufen. Die meiste Zeit hangelte er sich wohl nach Menschenaffenart durchs Geäst. Doch wenn er mal vom Baum stieg, könnte der zweibeinige Gang seine natürliche Fortbewegungsart gewesen sein – ganz anders als bei Schimpansen & Co. Die können sich zwar ebenfalls aufrichten, doch geht ihnen vierbeiniges Laufen buchstäblich leichter von der Hand.

Wards Untersuchung stärkt frühere Studien zur Evolution des Menschen, die ein neues Licht auf eine uralte Forschungsfrage werfen: nämlich warum der Mensch den aufrechten Gang entwickelt hat. Diese Frage könnte falsch formuliert sein. Denn der aufrechte Gang war vielleicht schon da, lange bevor die direkten Vorfahren des Menschen auf den Plan traten. Rudapithecus lebte sogar noch vor dem letzten gemeinsamen Ahnen von Gorillas, Schimpansen und Menschen.

Schimpansen sind nicht die beste Vergleichsgröße

Lange Zeit haben wir auf unsere Mit-Menschenaffen geblickt und uns gefragt, wie aus einem Wesen wie ihnen so eines wie wir geworden sein kann. Geht man nach Ward, könnte das ein grundlegender Denkfehler sein. Denn die gegenwärtigen Menschenaffen sind möglicherweise eher untypisch. Was schon bei der Größe beginnt: In jüngerer Vergangenheit gab es mehrere Studien, die nahelegten, dass der Urahn des Menschen wie Rudapithecus kleinwüchsig gewesen sein dürfte – mehr Gibbon- als Schimpansenformat.

Mit der Fortbewegungsweise auf zwei oder vier Beinen sähe es ganz ähnlich aus. Unser zweibeiniger Gang wäre demnach typisch für Menschenartige – das, was unsere haarigen Cousins heute tun, hingegen nicht. Laut Ward sollten wir uns nicht die Frage stellen, warum der Mensch den aufrechten Gang gelernt hat. Sondern vielmehr, warum er ihn nicht so wie die anderen Menschenaffen wieder verlernt hat. (jdo, 28. 9. 2019)