Danny Clinch / Sony Musicrittany Howard veröffentlicht heute ihr traumhaftes Soloalbum "Jaime".

Foto: Danny Clinch / Sony Music

Brittany Howard hat die Notbremse gezogen. Die Sängerin der US-Band Alabama Shakes hat sich eine Auszeit genommen. Die Dauer ist unbekannt, die Gründe sind nachvollziehbar. Die Musikerin aus Athens in Alabama fühlte sich leergespielt und verspürte Burnout-Syndrome. Kein Wunder. Seit dem Auftauchen ihrer Band mit dem Debütalbum Hold On (2014) ging es steil nach oben. Eben hatte die Combo noch in Trucker-Clubs und Smalltown-Schuppen gespielt, plötzlich saß im Publikum die Familie Obama vor ihr, die sie als Fans der ersten Stunde ins Weiße Haus eingeladen hatte.

Ein Album später waren die Shakes für ihren neunten Grammy nominiert, spielten als Headliner großer Festivals und traten in feinen Konzertsälen auf.

Arme Schlucker

Zeit durchzuatmen blieb kaum, und niemanden in der Band schien das so zu belasten wie ihre Sängerin und Gitarristin. Also stieg sie auf die Bremse. Schließlich galt es, den Erfolg endlich zu genießen. Davor war hauptsächlich ihre Mutter Nutznießerin des Ruhms ihrer Tochter. Mit dem ersten Geld, das Howard mit den Alabama Shakes verdient hatte, kaufte sie ihrer Mum ein schönes Haus. Denn aufgewachsen waren die Howards als arme Schlucker.

Als Kind eines Schwarzen und einer Weißen wohnte sie mit ihrer Familie am Rande eines Schrottplatzes in einem Trailer. Als in den der Blitz einschlug, brannte er aus. Brittany war das jüngere von zwei Mädchen und liebte ihre große Schwester Jaime über alles. Jaime brachte sie zur Musik, zur Poesie, gab ihr Selbstvertrauen. Entsprechend groß war der Schock, als bei Jaime eine seltene Form von Augenkrebs diagnostiziert wurde, an dem das Mädchen bald darauf starb – und der Vater die Familie wenig später verließ.

"Stay High."
BrittanyHowardVEVO

Brittany hat aus demselben Grund auf einem Auge ihre Sehkraft eingebüßt. Ihre Schwester vermisst sie bis heute – nach Jaime hat sie ihr am heutigen Freitag erscheinendes Solodebüt benannt.

Jaime ist also autobiografisch gefärbt; eine Art therapeutische Sitzung – jedoch ohne wehleidiges Geschwätz. Howard hat mit ihren 30 Jahren mehr er- und überlebt als viele andere. Daraus bezieht sie Stärke, ohne ihre Sensibilität zu verlieren. Sie verkörpert, was Nina Simone einst als "young, gifted and black" besang.

Musikalisch musste sie sich für Jaime nicht neu erfinden. Wenn sie Lust auf Abwege verspürt, geht sie ohnehin Nebenprojekten wie den rockigen Thunderbitch nach – oder dem countryaffinen Görl-Trio Bermuda Triangle.

Als sie selbst durchmisst sie ihr ureigenes Zehrgebiet. Das ist eine Mischung aus Southern Rock, Blues-Feeling, Garagen-Soul und Gospel. Dabei war es schon ein Charakteristikum der Alabama Shakes diese Stile sehr leger zu handhaben, ihre Muster oft nur zu skizzieren, sie lässig unfertig strahlen zu lassen. Das zeitigte beträchtlich Charme und erinnerte in der Machart an den Gebrauch von Samples im Hip-Hop – mit dem sind die Shakes ebenfalls aufgewachsen.

"History Repeats."
BrittanyHowardVEVO

Jaime zeigt Howard bei diesem Arbeitsansatz so konzentriert wie nie zuvor, ohne deshalb ihre Lockerheit zu verlieren. Der Funk eines Prince geht im heißeren Gesang Howards auf, den ein altes Mikro aufnimmt und der dem Album eine stimmige Patina verleiht. Balladen wie He Still Loves Me, erhalten so ihre Atmosphäre. In dem Lied behandelt die vom Glauben abgefallene Sängerin ihren Hader mit der Kirche, lässt ihre Gitarre jaulen und schaltet einen Prediger zu und gibt dem ewigen afroamerikanischen Prinzip der Hoffnung am Ende doch nach: "I know he still loves me when I’m smoking blunts", singt sie und behauptet, dass ihr Gott gütig und tolerant sei: "He doesn't judge me."

"He still loves me."
BrittanyHowardVEVO

Stay High ist ein charmant-filigraner Rumpler, Georgia ein autobiografisches Flehen nach der Aufmerksamkeit eines Mädchens, in das sich der Teenager Brittany einst verliebt hat. Dabei verfällt sie Jahre später noch in das verträumte Mantra "I just want Georgia to notice me."

Ziegenkopf am Rücksitz

In all dem wirkt Howard so souverän wie emotional, so fantasievoll wie optimistisch. 13th Century Metal ist so etwas wie ein Vintage-Gottesdienst, Goat Head erinnert an einen rassistischen Übergriff aus ihrer Kindheit. Als die Familie einmal zu ihrem Auto ging, waren die Reifen aufgestochen und auf der Rückbank lag ein abgeschnittener Ziegenkopf. Das weiße Alabama in full force.

BrittanyHowardVEVO

All diese Widrigkeiten haben Spuren hinterlassen und machten Howard zu der, die sie heute ist. Angesichts ihres Soloalbums muss man sagen, sie macht das Beste daraus: Jaime ist eine fantastische Platte. Sollte Howard sich dazu entschließen, die Alabama Shakes bleiben zu lassen, wäre das zwar schade. Solange sie Soloalben von dieser Qualität veröffentlicht, aber ein Verlust, der zu verschmerzen wäre. (Karl Fluch, 20.9.2019)