Abgeblätterte Seidentapeten, durchgekrachte Parketts und Plafonds, Jahrhunderte in Schutt und Asche. "Mich zieht die Ästhetik dieser Orte magisch an, ich fühle mich darin auf eine gewisse Weise zu Hause", sagt der steirische Fotograf Thomas Windisch. "Einerseits ist eine Ruine ein verlorener Ort, weil er vom Menschen aufgegeben, seiner Funktionen beraubt und von der Natur zurückerobert wurde. Andererseits aber wird die Ruine durch die Transformation zu etwas ganz Neuem – zu einem Zeitzeugen, zu einem Mahnmal, vielleicht sogar zu einer Vorwegnahme dessen, wie die Welt in hundert Jahren aussehen wird, wenn wir uns weiterhin so deppert anstellen und uns von diesem Planeten eigenhändig ausradieren."

"Mich zieht die Ästhetik dieser Orte magisch an, ich fühle mich darin auf eine gewisse Weise zu Hause", sagt Thomas Windisch.
Foto: Thomas Windisch

Windisch ist Autodidakt, fotografiert erst seit ein paar Jahren, seit er sich, wie er im STANDARD-Gespräch erzählt, zu seinem 30. Geburtstag mit einer professionellen Spiegelreflexkamera beschenkt hat. Schon bald entdeckte er seine Leidenschaft für verlassene Villen, tote Krankenhäuser, niedergewirtschaftete Industrieareale. Was als romantischer Spaziergang durch die Zeit begann, entwickelte sich bald zu einer Abenteuersafari, die nicht nur durch Rost und Spinnennetze führt, sondern dem Fotografen mitunter körperliche Beherrschung und logistische Reiseplanung abverlangt.

Illegaler Schrottplatz

"Eine Villa oder ein leerstehendes Fabrikgebäude ist relativ leicht zu fotografieren", sagt der 36-Jährige, der schon mal drei Wochen in Tschernobyl und Prypjat verbrachte. "Schwieriger wird es bei Ruinen, die man sich erst mühsam erkämpfen muss." In einer aufgelassenen Mine in England stieß Windisch 2015 auf einen illegalen Schrottplatz, in dem alte Autowracks einfach in die Tiefe gestoßen wurden.

Mit Lampen, Kletterausrüstung und aufblasbarem Schlauchboot gewappnet stieg er in die Tiefe hinab und hielt das atemberaubende Foto mitsamt hellblauem Range Rover für die Ewigkeit fest. Gänsehaut. Seite 50 in seiner soeben erschienenen, 200-seitigen Augenreise zu verlassenen Orten.

Nicht nur in der Fotografie, auch in der Architektur sind verlorene Orte ein bewährtes Fundament für lustvolle Spiele an der Schnittstelle von Schöpfung und Zerstörung. Schon in der Antike wurden Ruinen überbaut und Bausteine davon als sogenannte Spolien in anderen Bauwerken wiederverwendet.

In der jüngsten Geschichte spielt der spanische Architekt Ricardo Bofill eine wichtige Rolle. 1973 kaufte er in Sant Just Desvern eine alte Zementfabrik aus dem Ersten Weltkrieg und baute diese zu "La Fábrica" mit Wohn- und Atelierräumen um. In den letzten fünf Jahren erlebt die Revitalisierung von verrotteten Ruinen einen regelrechten Hype – und produziert Räume mit Demut vor der Zeit. (Wojciech Czaja, 22.9.2019)

Foto: W. Ebenhofer

Gartenhaus in Steyr: Der oberöster reichische Architekt Gernot Hertl kaufte ein baufälliges Bauernhaus (1650), höhlte Ziegel- und Steinmauerwerk aus und füllte die Löcher mit nacktem Sichtbeton aus. Seit 2014 wird das Gartenhaus als Kultur- und Seminarzentrum genutzt.

Foto: W. Czaja

Alila-Hotel in Yangshuo: Die fruchtbare Gegend in der chinesischen Provinz Guangxi war einst für Zuckeranbau bekannt. Nachdem die 1960 errichtete Zuckerrohrfabrik am Fluss Li jahrelang leerstand, wurde sie von Vector Architects zu einem Luxushotel umgebaut. Ab 250 Euro pro Nacht.

Foto: Erica Overmeer

Antivilla in Potsdam: Einst eine alte DDR-Trikotagenfabrik, heute ein Angriff auf das spießbürgerliche Einfamilienhaus: Arno Brandlhuber, Markus Emde und Thomas Schneider schufen mit der durchbetonierten Antivilla die vielleicht radikalste Wohnsanierung Deutschlands.

Foto: Likyfoto

ID-Town in Shenzhen: Shenzhen ist eine der schnellstwachsenden Städte der Welt. Dennoch entschieden sich die O-Office Architects und ihre Bauherren, die MJH Group, die Honghua-Textilfärberei nicht abzureißen, sondern 2014 als Hülle für Büro- und Veranstaltungsboxen zu nutzen.

Foto: Philip Vile

Astley Castle in Warwickshire: Einst wohnten hier Edward IV, Henry VII und Lady Jane Grey. Nach einem Brand 1978 stand das von 1266 bis 1555 errichtete Schloss fast 30 Jahre lang leer. Der behutsame Umbau macht die Spuren leicht ablesbar. Heute kann man sich auf Zeit einmieten.

Foto: Edward Beierl

Haus am Schedlberg: Abreißen oder bewahren? Der Münchner Architekt Peter Haimerl entschied sich dafür, die teils morsche Holzhausruine zu erhalten und sie an ihren schwächsten Stellen mit brutalistischen Betonbalken aufzufüllen. So archaisch wie herzzerreißend schön.