Paul Holzer will Menschen, die in einer Lebenskrise stecken Mut machen: Auch wenn es noch so finster sei, könne es wieder hell werden.

Foto: vanessa gaigg

Jedes Mal, wenn es an der Tür klopfte, zuckte Paul Holzer* zusammen. Sechs Mieten hatte er nicht bezahlt. Die Angst, es könnte jemand kommen und ihn auffordern, die Wohnung zu verlassen, war allgegenwärtig.

Wenn Herr Holzer über etwas spricht, was ihm unangenehm ist, lehnt er sich vor. Dann fasst er sein blaues Cordjackett an beiden Seiten und zieht es nach vorn, bevor er sich wieder in den Sessel fallen lässt. "Ich habe mir viele Blödheiten zugetraut", sagt er. "Aber so etwas nicht."

Damit meint er, dass er Geld ausgegeben hat, das er eigentlich gar nicht mehr hatte. Wie er da reingeraten war, kann er sich bis heute nicht so genau erklären. "Es ging wahnsinnig schnell", sagt der 58-Jährige.

Der Moment der ersten Mahnung

Die Frage, ob er noch wisse, wie es war, als die erste Mahnung im Briefkasten lag, quittiert Holzer mit einem müden Lächeln. Für ihn bedeutete die Mahnung einen so großen Einschnitt, dass ihn heute noch die Diskrepanz zwischen seinen Gefühlen und der Schlichtheit des Briefes irritiert. "Der war ganz normal in der Post, einfach so", sagt er. "Nicht eingeschrieben oder so was." Schon dort war zu lesen, was ihm drohte, würde er seine Schulden nicht binnen zweier Wochen begleichen. "In meinem Kopf war ich schon obdachlos", sagt er.

Seit drei Jahren lebt Herr Holzer in einer Genossenschaftswohnung in Wien-Liesing. Finanziell ist es knapp. Er bekommt Invaliditätspension und Wohnbeihilfe. Abzüglich seiner Verpflichtungen – der Rückzahlung eines ehemaligen Unterhaltsvorschusses für seinen Sohn – bleiben knapp 800 Euro im Monat. Davon muss er noch 314 Euro Miete (ohne Stromkosten) bezahlen.

Vom Burgenland in die Gendarmeriekaserne

Lange hatte Herr Holzer keine finanziellen Probleme. Im Gegenteil: Es gab Zeiten, da konnte er es sich leisten, ein ganzes Jahr mit seiner damaligen Frau durch Spanien zu reisen. Trotz der Tatsache, dass es in seinem Leben einige Schlaglöcher gab, von denen er nicht alle ausließ.

Mit elf Jahren zog er mit seiner Familie vom Burgenland nach Wien. Dann kamen schwierige Jahre. In der Lehrzeit hat er sich mit den Falschen angefreundet: "Heute würde man wahrscheinlich sagen, ich war in einer Gang." Mit Mitte 20 hat er sich aus den Kreisen gelöst. Drei Mal heiratete er, drei Mal ließ er sich wieder scheiden. Dazwischen kam sein Sohn. Die berufliche Karriere verlief dann zwar unstet, aber Arbeit gab es meistens, zumeist im Gastgewerbe. Mit Geld umgehen konnte er aber nie. "Wenn ich mehr verdient habe, habe ich einfach mehr ausgegeben." Und dann wurde er krank.

Rheumatoide Arthritis lautet der Fachbegriff. Neun Mal war er bereits stationär im Krankenhaus. Schmerzen begleiten ihn ständig. Vor wenigen Jahren starb seine Lebensgefährtin an Lungenkrebs. "Irgendwann ist es dann bergab gegangen", sagt er. Nicht sofort und nicht in rasendem Tempo.

Der Sohn, der große Stolz

Der 58-Jährige sieht jung aus für sein Alter. Nur an wenigen Stellen sind die Haare schon etwas schütter und angegraut. Wenn er über sein Leben spricht, wirkt er weder geknickt noch bedauernd. Er hat viel erlebt und schämt sich nicht. Gleichzeitig gibt es kaum ein Thema, bei dem er länger verweilt, nichts, auf das er besonders stolz zu sein scheint. Nur auf einen kommt er immer wieder zurück. Sein 23-jähriger Sohn war der Einzige, den er noch besuchte, als er seine Wohnung kaum noch verließ.

Gewusst hat dieser aber nicht, wie es seinem Papa eigentlich geht. Der hat nämlich noch Möbel für ihn gekauft, als er seine Miete schon gar nicht mehr zahlen konnte. "Ich glaub ich hab mir sowas gedacht wie, 'Bei mir ist eh schon wurscht'", sagt Holzer. "Natürlich war das völliger Irrsinn." Gefragt habe der Sohn aber nie danach. "Ich wollte ihm etwas ermöglichen."

Herr Holzer hat seine Probleme niemandem anvertraut. Heute wisse er, dass viele Obdachlose eine Schwester oder einen Onkel haben, aber sich zu sehr schämen, um um Hilfe zu fragen: "Auch ich habe ein perfektes Doppelleben geführt." Ein großer Fehler, sagt er rückblickend. Seinen engsten Vertrauten hat er mittlerweile davon erzählt. Auch seinem Sohn. "Der nimmt jetzt überhaupt kein Geld mehr von mir", sagt er und lacht.

Ein tiefer Strudel

Aber wenige wissen, wie tief der Strudel war, aus dem er nicht mehr allein herausfand. "Ich war ganz unten. Es gab kein Licht mehr", sagt er. Er verfiel in eine Depression und beschloss zu warten, bis jemand kommt, um ihn aus der Wohnung zu werfen. "Dann wollte ich die Türe einfach zusperren. Ich wollte nicht mehr leben." Heute weiß Herr Holzer, dass einiges zusammenkam – die Trauer um die Lebensgefährtin, die Krankheit -, dass nicht nur die Geldprobleme der Auslöser für seine Suizidgedanken waren. Irgendwann sei einfach alles zu viel geworden.

Bis er den wahrscheinlich größten Kraftakt in seinem Leben schaffte und zum Telefonhörer griff.

Unter den vielen Briefen und Rechnungen, die sich bereits angesammelt hatten, war auch einer von Sozialarbeitern der Volkshilfe, die vom Bezirksgericht informiert werden, wenn eine Delogierung im Raum steht. Zwei Tage vor dem Räumungstermin rief er dort an. Dann übernahmen sie kurzzeitig das Ruder: Das Sozialamt gewährte eine finanzielle Hilfe für besondere Notlagen. Die Vermieterin willigte in Teilzahlungen ein. Auch ärztlichen Rat hat er gesucht.

Wie es wieder hell wurde

In der ersten Zeit telefonierte er fast täglich mit seiner Betreuerin. Alle zwei Wochen kam er persönlich vorbei. Er ließ sich von einem betreuten Konto überzeugen, von dem seine Miete nun direkt abgebucht wird. Gemeinsam mit der Schuldnerberatung entschloss er sich zu einem Privatkonkurs. In ungefähr fünf Jahren will er schuldenfrei sein.

Sein Rat an alle, die nicht mehr ein und aus wissen: sich echte Hilfe holen. Und: Zurückkämpfen ist möglich. Ein Jahr hat es gedauert, bis Herr Holzer wieder auf den Beinen war. Früher hatte er das Gefühl, er habe gänzlich versagt. Heute sagt er: "Mein Verhalten damals war mir selbst gegenüber nicht zu entschuldigen."

Vor einem halben Jahr war es noch ganz finster, sagt Herr Holzer. "Mir wird in meinem Leben wahrscheinlich noch einiges passieren. Aber in so ein Fahrwasser komme ich nicht mehr." (Vanessa Gaigg, 26.9.2019)