Inhalte des ballesterer (http://ballesterer.at) #145 (Oktober 2019) – Seit 20. September im Zeitschriftenhandel und digital im Austria-Kiosk (https://www.kiosk.at/ballesterer)

SCHWERPUNKT: STADIONVERBOTE

DRAUSSEN VOR DEN TOREN

Vom Alltag in der "Sektion Stadionverbot"

DIE REGELN DER VERBOTE

Kleine Geschichte des Stadionverbots in Österreich

Außerdem im neuen ballesterer

DURCHBRUCH IN WOLFSBERG

Die Karriere von Shon Weissman

DIE HOHE WEIHE

Mario Kempes zu Besuch bei der Vienna

TORE IN SERIEN

Die Fußballstrategien von Netflix

KOLONIALE KNAPPEN

Ein Gespräch über Schalke, Tönnies und Rassismus

DIABOLIKS TOD

Ein Leben zwischen Kurve, Faschismus und Kriminalität

EINWEGEINBLICKE

Fußballerinnen fotografieren ihren Alltag

SCHNEIDER UND MEISTER

Stilberatung mit Giuseppe Koschier

SOLIDARITÄT STATT SCHWEIGEN

Ein Anstoß zum Umgang mit sexualisierter Gewalt

ENGLANDS FIREDLICHES BELFAST

Ökumene in Liverpool

GROUNDHOPPING

Matchberichte aus der Deutschland, Italien, der Republik Moldau und Tschechien

Foto: Robert Maybach

Helmut Mitter von der Rechtshilfe Rapid über über juristische Graubereiche, Strafen von außen und Sozialarbeit von innen.

Foto: Robert Maybach

ballesterer: Sie sind aus Oberösterreich. Wie sind Sie ausgerechnet Rapid-Fan geworden?

Helmut Mitter: Über Rapid heißt es ja immer, der Verein habe in ganz Österreich Fans. Ich bin ein Beispiel dafür. Ich bin jetzt 17 Jahre in der Fanszene aktiv, 2003 habe ich in Linz mit Freunden die "Lions" gegründet. Ein Fanklub, der von außerhalb von Wien kommt, kann ja noch einmal ganz andere Impulse setzen. Daneben hat es das Motiv gegeben, das wahrscheinlich bei jeder Fanklubgründung ganz vorne steht: Man ist in einer Gemeinschaft, und der Fußball lebt von der Gemeinschaft. Keiner fährt gerne für sich alleine.

ballesterer: Wie viel Zeit widmen Sie pro Woche dem SK Rapid?

Mitter: Derzeit sehr viel. In Stunden ist das schwer zu beziffern, es ist ein Teil meines Lebens. Da kommt vieles zusammen – die Leidenschaft für den Verein, Freundschaften, die Freizeit.

ballesterer: Wenn jemand so viel Zeit investiert, was bedeutet es dann, ein Stadionverbot zu bekommen?

Mitter: Für viele Fans, die das betrifft, ist ein langes Stadionverbot belastender als die juristische Strafe. Beim Ruf nach Stadionverboten wird gern vergessen, dass die Person eh schon eine Strafe durch ein ordentliches Gericht erfährt. Das Stadionverbot ist eine Zusatzstrafe. Damit sollte man nicht leichtfertig umgehen. Aber unsere Position ist nicht "Das ist ja eh gut, man muss nur dies und jenes verbessern." Wir sind zur Gänze gegen Stadionverbote. Sie verfehlen ihren Zweck.

ballesterer: Was wäre der Zweck?

Mitter: Die Bundesliga sagt: präventiv zu wirken und zu belehren. Ihr geht es um den Bewerb, und da sind störende Fans fernzuhalten. Nach dem Prinzip: Was man nicht sieht, ist nicht da. Aber wenn einer vorm Stadion steht, ist er natürlich trotzdem da, das ist schließlich sein soziales Umfeld. Ich glaube nicht, dass durch Stadionverbote weniger delinquentes Verhalten gesetzt wird. Sie führen auch nicht dazu, dass Leute sagen: "Danke, dass ich etwas gelernt habe." Es gibt ja keine begleitenden Maßnahmen. Leute werden ausgesperrt, aber was dann mit ihnen passiert, ist egal.

ballesterer: Der Fanszene ist es nicht egal. Sie feiert sie als "Sektion Stadionverbot" ab.

Mitter: Klar. Die Stadionverbotler sollen weiterhin das Gefühl haben, dass sie dazugehören. Ich habe oft erlebt, dass Leute in der Fanszene aufblühen und sich das auch im beruflichen und privaten Bereich positiv auswirkt. Wenn sich wer schwertut, sich sozial zu verankern, aber das im Fußball schafft, ist das etwas Schönes.

ballesterer: Hat der "Block West" einen sozialarbeiterischen Anspruch?

Mitter: Ja. Ich würde auch sagen, dass Sozialarbeit von außen so gut wie gar nicht funktioniert, das geht viel besser von innen. Es gibt viele Leute, die sich von Autoritäten nicht gerne etwas sagen lassen. Das gehört zur Jugendkultur, dass man ein bisschen mit dem Kopf durch die Wand will. Aber wenn wir sagen "Was du machst, ist total falsch", dann nimmt der das ganz anders auf. Deswegen muss jedem Verein etwas daran liegen, dass es eine funktionierende Fanszene und einen Selbstreinigungsprozess gibt.

ballesterer: Ist dieser Selbstreinigungsprozess nicht dasselbe wie ein durch die Kurve verhängtes Stadionverbot? Sie sagen den Leuten ja auch: "Du kommst hier nicht mehr hinein."

Mitter: Wenn einer sich komplett so verhält, dass es außerhalb unseres Rahmens ist, schon. Ein gutes Beispiel ist das Thema Rechtsextremismus, das war früher einmal ein großes Thema bei Rapid. Der "Block West" versteht sich aber als unpolitische Kurve und duldet es nicht, wenn Leute den Klub als Bühne nutzen wollen, um zu agitieren. Wer das nicht akzeptiert, hat in der Szene keinen Platz.

ballesterer: Für Homophobie gilt das aber nicht. Die ist ja auch hochpolitisch.

Das ist ein schwieriges Thema bei Rapid, keine Frage. Das sind Dinge, die sich über Jahre hinweg verfestigt haben. Da kannst du sagen, das darf es in der heutigen Gesellschaft nicht geben, aber das ist ganz schwer rauszukriegen. Aber auch da helfen keine Sanktionen von außen, das löst nur Trotzreaktionen aus.

ballesterer: In Österreich gibt es derzeit 122 Stadionverbote. Im Vergleich zu Deutschland und der Schweiz sind das sehr wenige. Woran liegt das?

Mitter: Unter anderem daran, dass in Österreich vernünftiger damit umgegangen wird. Aber auch, weil es die Fanprobleme, die herbeigeschrieben werden, in diesem Ausmaß nicht gibt. Das Thema kommt in den Medien sehr viel stärker vor als in der Realität. Das ist in anderen Bereichen ähnlich. In Österreich sind wir nach wie vor der Meinung, ein Flüchtlingsproblem zu haben. Dabei haben wir nie eines gehabt.

ballesterer: Wie kommen Fans zu einem Stadionverbot?

Mitter: Früher waren Stadionverbote wörtlich zu nehmen, sprich: Du verstößt im Stadion gegen die Hausordnung und wirst ausgesperrt. Inzwischen ist es erweitert worden. Alles, was im Zusammenhang mit einem Fußballspiel passiert, soll mit einem Stadionverbot sanktioniert werden können. Damit ist ein Graubereich geschaffen worden. Was im Stadion passiert, bekommen Vereine und Liga über Kameras und Ordner mit. Außerhalb sind sie auf Externe angewiesen, also die Polizei. Wenn sie eine Anzeige schreibt, leitet sie die Information automatisch an die Bundesliga weiter. Das ist irrsinnig problematisch.

ballesterer: Warum genau?

Mitter: Vor allem in Wien ist es meistens so, dass die Anzeige die Liga früher erreicht als die Personen selbst. Ein privater Verein erfährt also vor dir, dass du nach Paragraf sowieso angezeigt worden bist und dir beispielsweise eine Körperverletzung vorgeworfen wird. Mitarbeiter im Büro der Liga lesen dann, was du gemacht hast – mutmaßlich. Von den angezeigten Personen, die wir als "Rechtshilfe Rapid" beraten, werden am Ende nämlich nur maximal zehn Prozent verurteilt. Dazu kommt, dass du bei einer Anzeige ein Recht auf Aussageverweigerung hast, für das Stadionverbot ist aber eine Stellungnahme für die Beurteilung relevant. Man kann davon ausgehen, dass die dann auch vor Gericht verwendet wird. Es wird die Anfrage der Polizei an die Liga nach diesen Stellungnahmen geben. Da kann die Liga auch wenig machen, soll sie etwa die Ermittlungen behindern?

ballesterer: Was passiert mit dem Stadionverbot, wenn jemand freigesprochen wird?

Mitter: Es wird rückwirkend aufgehoben. Irgendwann. Wir haben gerade folgenden Fall: Jemandem sind fünf Delikte vorgeworfen worden, er hat dafür sechs Jahre Stadionverbot bekommen. Zwei Monate später ist er von allen Anklagepunkten freigesprochen worden, weil eine Verwechslung vorgelegen ist. Das Stadionverbot hat er bis heute, weil die Liga sagt, sie muss das in ihrer nächsten Sitzung behandeln.

ballesterer: Wäre es eine Verbesserung, wenn es ein Stadionverbot nur nach einer rechtskräftigen Verurteilung geben würde?

Mitter: Ja, klar. Die Liga hat heute einen Vertrag mit dem Innenministerium für den Datenaustausch. Den hat übrigens noch niemand gesehen, obwohl wir schon x-fach danach gefragt haben. Es könnte ja genauso gut einen mit dem Justizministerium geben und die Meldung erst dann erfolgen, wenn ein Richter sagt: "Da ist ein Urteil mit einem Fußballbezug gefallen."

ballesterer: Sollten Stadionverbote überhaupt nur von Gerichten ausgesprochen werden?

Mitter: Ich weiß nicht, ob das die richtige Konsequenz wäre. Die Richter sind ja sehr weit weg von der Materie. Jetzt entscheidet das Stadionverbotskomitee, das unter anderem mit Staatsanwälten und Sozialarbeitern besetzt ist. Die Grundproblematik ist nicht die Besetzung eines Gremiums, sondern dieser Graubereich, also die Verhängung aufgrund von Anzeigen durch die Polizei. Das führt zu massivem Missbrauch. Gegen Rapid-Fans sind in der letzten Saison 219 Anzeigen eingegangen – da hat die Polizei einen Sachbearbeiter, der den ganzen Tag nur darauf wartet, dass er die nächste Anzeige schreiben kann.

ballesterer: Sie haben das Stadionverbotskomitee angesprochen. Die Fanszenen haben im Juli in einem offenen Brief die Kommunikation mit dem Komitee beendet. Warum?

Mitter: Aus unserer Sicht wird die Verantwortung ständig hin und her geschoben. Die Vertreter der Bundesliga sagen: "Das macht das Komitee." Das Komitee sagt: "Die Bundesliga macht die Vorgaben." So kann man zu keinem substanziellen Ergebnis kommen. Es häufen sich zudem die Fälle von Willkür, also wo man nicht nachvollziehen kann, warum jemand ein Jahr Stadionverbot bekommt und ein anderer in einer ähnlichen Sache vier Jahre.

ballesterer: Welche Vorschläge sind von den Fans eingebracht worden?

Mitter: Wir haben etwa vorgeschlagen, dass es beim Einsatz von bengalischen Fackeln beim ersten Mal immer nur eine Verwarnung gibt. Dann kann sich die Person zumindest darauf einstellen und entscheiden, ob sie eine Fackel zünden will. Vor ein paar Jahren sind nur bei der Verwendung von Böllern und Leuchtstiften Stadionverbote ausgesprochen worden. An dem Beispiel sieht man, wie sich die Grenzen immer weiter verschieben.

ballesterer: Wer ein Stadionverbot bekommen hat, kann um vorzeitige Aufhebung ansuchen. Wie läuft das ab?

Mitter: Die Vorsprache ist eine gute Sache, die Gespräche sind sogar per Videoschaltung möglich und laufen fair ab. Da ist wichtig, dass Leute zeigen, dass sie nette Kerle sind und voll im Leben stehen. Aber nehmen wir das Beispiel Pyrotechnik. Wir haben der Liga schon oft gesagt: "Sollen wir da empfehlen, dafür Reue zu zeigen? Ihr wisst doch, dass das gelogen wäre. Was hat das für einen Sinn?"

ballesterer: Wie war die Reaktion auf den offenen Brief?

Mitter: Die Bundesliga ist angefressen. Wir glauben, dass es da wieder eine Annäherung geben wird müssen. Aber dafür muss sich zunächst etwas ändern, sonst macht ein Dialog keinen Sinn. Ich hoffe, dass mit dem Brief innerhalb von Liga und ÖFB ein Nachdenken stattfindet und man unsere Kritikpunkte einmal ernsthaft reflektiert. Bei den Vereinen ist es zur Kenntnis genommen worden, und medial war es kein großes Thema.

ballesterer: Angenommen die Liga und der ÖFB würden einen Pilotversuch machen und die Stadionverbote bei einem Entgegenkommen der Fanszene aussetzen. Würden Sie darauf eingehen?

Mitter: Natürlich würden wir das diskutieren. Wir haben gestern einen Derbymarsch gemacht, wo es keinen Zwischenfall gegeben hat. Die Polizei war eigentlich nicht präsent. Mehr Polizei heißt nicht mehr Sicherheit. Mehr Regeln bedeuten nicht, dass weniger passiert. Vielleicht ist weniger mehr. Vielleicht erreicht man mit einem lockereren Umgang bessere Ergebnisse, mehr Zufriedenheit und mehr Gemeinsames. Es gibt viele Dinge, bei denen Liga und Fans im selben Boot sitzen. Wir wollen, dass viele Zuschauer ins Stadion kommen, dass der Sport funktioniert, dass das ein Spektakel ist. Wir sollten künftig mehr über die positiven Dinge reden und gemeinsam den Sport attraktiver machen. Der Blick auf das Wesentliche wird aber permanent durch Debatten wie eben zur Stadionverbotsthematik verstellt. (Jakob Rosenberg, Nicole Selmer, 19.9.2019)