Wochenlang haben STANDARD-Reporter die Wahlkämpfer beobachtet und Bemerkenswertes aufgeschrieben. Lesen Sie hier den dritten Teil unserer Langzeit-Beobachtungen der Kandidaten im Wahlkampf.

Die Schwere einer Aufgabe lässt sich nicht immer in Kilogramm messen. Franz Müllner, der "stärkste Mann Österreichs", hebt gerade einen Hubschrauber an. Dabei stemmt er zwischen 600 und 1000 Kilogramm in die Luft. Aber es ist der Mann, der in dem Hubschrauber sitzt, der in ein paar Wochen das vermeintlich Unmögliche möglich machen soll.

Von Salzburg bis Oberösterreich bis Vorarlberg – DER STANDARD hat FPÖ-Spitzenkandidat Norbert Hofer auf seiner Wahltour begleitet.
DER STANDARD

Norbert Hofer ist Spitzenkandidat, Klubobmann, seit Mai designierter und seit September auch gewählter Parteichef der FPÖ. Ein Video mit dem ehemaligen Vorsitzenden dieser Partei hat die Republik in eine ihrer größten politischen Krisen seit langem gestürzt. Das ist vier Monate her. Nach aller politischen Logik müsste die FPÖ eine schwere Niederlage einfahren, laut Umfragen kämpft sie trotzdem um Platz zwei.

Tamsweg ist eine Kleinstadt im Lungau. Knapp 5700 Einwohner, Berge links und rechts, wichtige Haltestelle der pittoresken Murtalbahn. Auf dem Fußweg zwischen Bahnhof und dem Sportzentrum hängen sechs FPÖ-Plakate.

Viermal Hofer, zweimal Kickl, keines der anderen Parteien. Wenn die Wiener Politblase von "Westösterreich" redet, dann ist das ungefähr hier.

Wo ist eigentlich Ibiza? Norbert Hofer spricht meist in warmen Worten, und benutzt emotionale Bilder. Hört man ihm zu, ergeben alle Erklärungen Sinn.
Foto: Heribert Corn

Virtuelle Tour

Es ist ein Freitag im September, und Franz Müllner, Kampfname "Austrian Rock", unternimmt einen Weltrekordversuch. Er will eine Plattform anheben, auf der gleichzeitig ein Hubschrauber landet, in dem ein Pilot und der FPÖ-Spitzenkandidat sitzen. Das ergibt alles natürlich überhaupt keinen Sinn, aber im Wahlkampf ist man besser dran, wenn man nicht zu viel hinterfragt. Norbert Hofer macht in diesen Wochen nicht viele solcher Termine. Das liegt zum einen an der schieren Fülle an TV-Duellen – und zum anderen daran, dass es heute nicht mehr notwendig ist, einen Spitzenkandidaten physisch durchs Land zu jagen und täglich vor 200 Leute auf eine Bühne zu stellen. Bei jedem Auftritt von Hofer sind Fotografen und FPÖ TV dabei, ein paar Stunden später steht alles auf Facebook und erzeugt so eine virtuelle Tour durch Österreich, bei der jeder dabei gewesen sein kann.

Der Spitzenkandidat der Freiheitlichen ist 48 Jahre alt und in den letzten Jahren sichtbar gealtert. Darüber scherzt er an den Rednerpulten selbst. Man merkt ihm die Strapazen des Wahlkampfs trotzdem wenig an. Nur einmal, Mitte letzter Woche, war Schluss: Hofer bestritt eine als TV-Duell getarnte Paartherapie mit Sebastian Kurz mit 39,4 Grad Fieber und musste im Studio ärztlich behandelt werden. "Die Wahl 2016 war ein Marathonlauf", sagte Hofer am Rande einer Veranstaltung zum STANDARD. "Dagegen ist 2019 fast gemütlich." Dabei lächelt er.

Eigentlich lächelt Hofer unentwegt. Mal lacht er, mal grinst er, oft zeigt er Zähne. Seine Aufgabe in diesem Wahlkampf ist, den Ibiza-Skandal mit Freundlichkeit zu ersticken. Die erfüllt er, so viel kann man sagen, sehr gut.

Warme Worte

Ibiza ist von Wien 1582 Kilometer entfernt. Hofer schafft es in seinen Reden, die Distanz rhetorisch locker noch zu verdoppeln. Er redet nicht viel darüber, wenn er nicht muss. Aber wenn, dann nutzt er Formulierungen wie "das Video, das ihr kennt", das in "einem schwachen Moment" entstand und dem "schwere Stunden" folgten. Hofer spricht meist in warmen Worten, benutzt emotionale Bilder, greift immer wieder auf seine Vergangenheit, seinen Unfall und seine Rückkehr ins Leben zurück. Hört man ihm zu, ergeben alle Erklärungen Sinn. Das alles hatte nichts mit der Partei zu tun, nur zufällig mit ihrem Vorsitzenden. Wo ist eigentlich Ibiza? War da was?

Hofer kann so nett reden, dass es sogar warm klingt, wenn er eigentlich eiskalt ist. Wenn er zum Beispiel auf Facebook und auf dem Parteitag dem "Lieben Heinz-Christian" in freundlichen und konzilianten Worten für die Vergangenheit dankt, aber kein Wort über eine mögliche gemeinsame Zukunft verliert. Das ist wie Schlussmachen per Whatsapp.

Der Ibiza-Skandal ist in dem Wahlkampf, den er selbst ausgelöst hat, seltsam abwesend. Das ist auch Hofers Verdienst. Die Partei hat eine Erzählung gefunden, die für ihre Wähler funktioniert. Spricht man mit Leuten auf FPÖ-Veranstaltungen, dann ist das Video wirklich die berühmte besoff'ne Geschicht, dann hat die ÖVP die Partei wirklich über den Tisch gezogen, und man wünscht sich wirklich vor allem die Koalition zurück.

Krisenmanagement

In Tamsweg, wo der "Müllner Franz" den Hubschrauber erfolgreich gestemmt hat, löst sich die Veranstaltung langsam auf. Marlene Svazek, Landeschefin der FPÖ Salzburg, steht ein bisschen am Rand. Fragt man sie, warum die Partei nicht so abgestürzt ist wie von manchen erwartet, liefert sie eine Analyse, der man schwer widersprechen kann. "Wir haben mittlerweile ein Stammwählerpotenzial von mindestens 15 Prozent", sagt Svazek.

Tamsweg im Lungau: Norbert Hofer sitzt in einen Hubschrauber, der wenig später von Franz Müllner, dem stärksten Mann Österreichs, auf den Schultern balanciert wird.
Foto: Matthias Cremer

Zudem habe das Krisenmanagement in den Stunden nach der Veröffentlichung funktioniert. "Wir hatten prominente Köpfe in der zweiten und dritten Reihe, die sofort übernehmen konnten und wollten." Ein Satz, der anderen Parteien, insbesondere der SPÖ, ein wenig wehtun muss.

Norbert Hofer konnte nicht nur, er wollte auch. Man merkt ihm an, dass der frühere Dritte Nationalratspräsident in den letzten Jahren Spaß an der Macht bekommen hat. Denn hinter Hofers Auftreten steckt natürlich auch Kalkül. Dank ihm und seinem Antreten bei der Bundespräsidentenwahl gibt es mittlerweile mehr als zwei Millionen Österreicher, die mindestens einmal die FPÖ gewählt haben. Wer in der Partei sollte das sonst schaffen?

Und so gibt es natürlich auch im Wahlkampf verschiedene Varianten des netten, freundlichen Herrn Hofers. Es gibt den aufgesetzt freundlichen wie in den TV-Duellen, wenn er sich mit der neuen ORF-Geheimwaffe Tobias Pötzelsberger ein Duell um den gefährlicheren Dackelblick liefert. Es gibt den entspannt freundlichen Norbert Hofer, der bei der obligaten Selfie-Runde eine bekannte Delegierte aus seiner Gegend mit einem pfeifenden "Bu-hurgen-laand!" begrüßt. Und es gibt den wirklich glücklichen freundlichen Norbert Hofer, den man zum Beispiel trifft, wenn man einen Flugplatz besucht.

Stärken und Schwächen

Hofer ist spät dran. Das Kleinflugzeug, das der begeisterte Pilot selbst fliegt, sollte seit einer halben Stunde in Hohenems sein, aber er kommt nicht so schnell voran wie geplant. "Das ist der Gegenwind der Medien", scherzt der freundliche Herr von der örtlichen FPÖ.

Es ist der Tag nach dem Parteitag in Graz. Als der Neo-Parteichef, heute in Fliegerjacke, letztlich mit einer Stunde Verspätung seine Rede hält, unterbricht er sich gelegentlich selbst, um eine Bemerkung über ein Flugzeug ("Dass der mit der großen Maschine hier überhaupt landen kann!" ) ins Mikrofon zu murmeln. Das ist einer der wenig genuin menschlichen Momente, bei denen man Hofer im Wahlkampf erwischen kann.

Begleitet man Spitzenkandidaten zu mehreren Terminen, stellen sich schnell Déjà-vu-Momente ein. Man merkt dann, welche Talking-Points sie sich zurechtgelegt haben ("Wir bieten die Koalition an, aber wir bitten nicht darum"), an welche Orte und Parteifreunde sie wirklich Erinnerungen haben und welche scheinbar spontanen Anekdoten eigentlich aus dem Reservoir kommen, wie die Geschichten über seinen Wehrdienst "im Grenzgebiet zu Jugoslawien". Man sieht die Stärken der Kandidaten: Bei Wahlkampfauftritten ist Hofer unendlich geduldig. Der ehemalige Organisationsreferent gibt den kleinen Funktionären vor Ort das Gefühl, dass sie wichtig seien. Und wenn ihm ein Reporter eines Lokalmediums erklärt, dass Kartoffeln im Lungau "Eachtling" heißen, weiß er das zehn Minuten später noch, als ein Kartoffelbauer vor ihm steht und ihm ein Sackerl überreicht.

Auf dem Parteitag in Graz gilt das Medieninteresse primär dem Duell zwischen Hofer und dem ehemaligen Innenminister Herbert Kickl.
Foto: APA/ERWIN SCHERIAU

Mit jedem Auftritt werden aber auch die Limits eines Kandidaten deutlich. Hofer ist beliebt, aber ihm fehlt die Volksnähe. Er strahlt weder die Hemdsärmeligkeit von Strache aus, noch hat er den Willen von Kickl zur radikalen Einfachheit. Wo Hofer auftritt, machen die Leute Selfies, johlen aber nicht. Wird dem Vegetarier Hofer ein Bier gereicht, nippt er höflich daran und reicht es nach fünf Minuten unauffällig seinem Begleiter. Seine Reden sind solide und pointenlos. Keine Veranstaltung, wo Kickl nicht mehr Lacher hat. Ob das ein Konflikt oder geniale Arbeitsteilung ist, kommt wahrscheinlich ein wenig darauf an, wen man fragt.

Auf dem Parteitag in Graz gilt das Medieninteresse primär dem Duell zwischen Hofer und dem ehemaligen Innenminister, das mancher erwartet und wohl noch viel mehr erhofft hat. Andere Aspekte in Hofers Rede gehen ein bisschen unter. Er will der Partei "seinen Stempel aufdrücken", kündigt an, die Partei "thematisch verbreitern" zu wollen und an der Vision einer "urbanen FPÖ" zu arbeiten. Er bekommt seine gewünschte Statutenänderung, um rechtsextreme "Einzelfälle" schnell und eigenmächtig zu suspendieren beziehungsweise ausschließen zu können.

Die Liberalen der Partei

Im Vorraum, wo Bier und Würstl serviert werden, rätseln die angereisten Journalisten, ob das eine verklausulierte Ansage ist, die Partei ein Stück weit zu deradikalisieren. Hofer arbeitet geschickt an diesem Bild, gibt kritischen Medien Interviews, erwähnt auch in Reden auf dem Land stets, dass es "viele fleißige Migranten gebe, die hier eine neue Heimat gefunden hätten". Aber beim Wahlkampfauftakt in einem Einkaufszentrum in Pasching spielt er in seiner 40-minütigen Rede ein Best-of des Anti-Migrations-Wahlthemas herunter. Er stattet mitten im Wahlkampf seinem "guten Freund" Viktor Orbán einen Besuch ab. Und er sitzt grinsend neben Kickl, als der auf dem Parteitag eine selbst für seine Verhältnisse beinharte Rede hält.

In Hohenems erinnert sich der Bürgermeister Dieter Egger an die gemeinsame Vergangenheit mit Hofer: "Wir waren immer die verschrienen Liberalen dieser Partei", grüßt er von der Bühne. Derselbe Dieter Egger war es, wegen dessen "Exil-Juden"-Sager die FPÖ 2009 aus der Vorarlberger Landesregierung flog. Vielleicht ist liberal dann doch ein relativer Wert.

Bei+ allen schwarz-grünen Schreckgespenstern, die FPÖler gerade heraufbeschwören: Norbert Hofer hat gute Chancen, nach dem 29. September Vizekanzler zu werden. Dann wäre der Mann, der laut eigenem Bekunden "noch nie auf Ibiza war", dort, wo er hinwill. Nur ein paar Monate nach dem politischen Skandal, den er erfolgreich weggelächelt hat.

Worum ging es da eigentlich noch mal? (Jonas Vogt, 21.9.2019)