Neos-Chefin Beate Meinl-Reisinger zitiert gerne eine STANDARD-Umfrage, der zufolge 39 Prozent die Neos in der Regierung wollen – wenn sie stark genug würden.
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Was an Beate Meinl-Reisinger auffällt, ist die ungebrochene Fröhlichkeit, mit der sie von Termin zu Termin – derzeit vor allem von Fernsehstudio zu Fernsehstudio – eilt. Ihr scheint Politik Spaß zu machen. Und wenn sie ihren Job nicht mit Fröhlichkeit anginge, müsste sie ihn wohl dennoch machen, also dann lieber mit Freude, verrät sie ihr Motto. Und sie sieht auch keinen Grund, sich in der Machtfrage zurückzuhalten: In einer Koalition hätte eine kleine Partei mehr Veränderungspotenzial als in der Opposition. Die Verantwortung würde sie jedenfalls nicht scheuen.

STANDARD: Frau Klubobfrau, Sie plakatieren: "An übermorgen denken" – aber lassen Sie uns an nächstes Jahr denken: Kann ich Sie dann mit "Frau Vizekanzlerin" ansprechen?

Meinl-Reisinger: Das werden die Wählerinnen und Wähler entscheiden – die stellen eine Art Wegweiser auf, wie es weitergehen soll. Es ist kein Geheimnis, dass ich eine große Sorge habe, dass es eine Neuauflage von Türkis-Blau gibt. Und ich will auch keine "große", oder "mittelgroße" müsste man eigentlich sagen, Koalition. Das bedeutet andererseits, dass ich grundsätzlich bereit bin, nach der Wahl Verantwortung zu übernehmen. Aber jetzt sollte es um die Zukunftskonzepte gehen – während es in diesem Wahlkampf viel zu oft um die Vergangenheit geht.

STANDARD: Dann denken wir an die Zukunft: Sollten Sie Vizekanzlerin werden, was machen Sie als Erstes?

Meinl-Reisinger: Das wichtigste Thema ist Bildung – vor allen anderen Themen. Da brauchen wir eine Betreuungs- und Qualitätsoffensive vom Kindergarten an. Bis hin zu unserem Konzept der Bildungspflicht statt der Schulpflicht mit der mittleren Reife, sodass kein Kind die Schule verlässt, ohne Lesen, Schreiben, Rechnen und selbstständig denken zu können. Dazu braucht es mehr Transparenz – das Bildungssystem ist einer der wenigen Bereiche im Leben, wo wir viel Geld hineinstecken, aber nicht evaluieren, was die Ergebnisse sind. Da wünschen wir uns Transparenz.

STANDARD: Eine gewisse Transparenz gibt es ja durch die OECD-Untersuchungen. Die zeigen auch: Unser Land gibt mehr als andere Länder für Bildung aus, bekommt dafür aber bescheidene Ergebnisse. Sie haben ja Kinder im Schulalter, ich weiß nicht, wie alt die sind ...

Meinl-Reisinger: Zehn und sieben. Ich weiß genau, wovon die Rede ist.

STANDARD: ... und Sie sind auch mit dem Problem konfrontiert, das viele Eltern haben: In welche Schule soll mein Kind gehen?

Meinl-Reisinger: Ja. Und auch mit der Frage: Wie erfährst du als Elternteil, wo ein Kind die besten Chancen hat? Es ist doch den meisten Eltern ein Anliegen, dass ihr Kind die besten Chancen hat. Da wäre es wichtig, dass die Ergebnisse von einzelnen Schulen und natürlich auch von einzelnen Lehrkräften transparent gemacht werden. Warum kann man nicht auch einzelne Lehrerinnen und Lehrer beurteilen? Das wäre auch ganz im Interesse der Lehrerinnen und Lehrer selbst. Ich habe sehr viele engagierte Pädagoginnen und Pädagogen getroffen, die mit Leidenschaft an die Sache herangehen, aber vom System aufgehalten werden. Denn derzeit macht es keinen Unterschied, ob sie engagiert sind oder nicht ...

STANDARD: Aber auch die engagiertesten Lehrer stoßen an Grenzen, wenn sie Schüler haben, die von zu Hause nichts mitbekommen. Sie mögen recht haben, wenn Sie sagen, dass den meisten Eltern gute Chancen für die Kinder wichtig sind. Problematisch ist aber, dass es Eltern gibt, die ihren Kindern nie etwas vorlesen, die den Kindern das Grüßen nicht beigebracht haben. Und da haben die Eltern der anderen Kinder berechtigte Sorge, dass das eigene Kind zurückbleibt, wenn es mit solchen Kindern zusammen in einer Klasse sitzt.

Meinl-Reisinger: Natürlich gibt es die primäre Verantwortung der Eltern – und es gibt Politiker die sagen: Selber schuld, wenn das Kind dann Nachteile hat. Die Politik hat aber die Aufgabe, für Chancengleichheit zu kämpfen – wir müssen vom Kindergarten an dafür sorgen, dass diese Kinder nicht verlorengehen. Es liegt kein Mehrwert darin zu sagen: Die Eltern sind halt schuld, und die jungen Menschen werden dann 30 Jahre beim AMS durchgefüttert.

STANDARD: Noch einmal: Was hilft jenen Eltern, die negative Einflüsse auf ihre Kinder minimieren wollen?

Meinl-Reisinger: Transparenz. Gerade hier in Wien haben wir das Problem mit Brennpunktschulen, wo Rot-Grün viel zu lange weggeschaut hat. Machen wir es wie in London: Schicken wir gerade die besten Lehrer dorthin, geben wir ihnen klare Ziele, und messen wir den Erfolg. Und belohnen wir auch den Erfolg. London hat eine hohe Erfolgsrate von Kindern aus den angeblich schwierigsten Gegenden, die dann erfolgreich studieren. Wir diskutieren viel zu oft: Was steht auf der Schule drauf? Aber wir müssten schauen: Was für Talent steckt in einer Klasse – und auch: wie viel Förderbedarf? Der Weg zu Topleistungen ist in unserem System auch versperrt.

STANDARD: Also Geld gezielt an Brennpunktschulen einsetzen – vielleicht auch Sozialarbeiter?

Meinl-Reisinger: Sozialarbeit würde ich flächendeckend einsetzen – allein schon wegen der Mobbingprobleme. Wir haben 700 Schulstandorte in Wien und 27 Sozialarbeiter. Es gibt hunderte Anzeigen wegen Gewalt in der Schule. Da kann man nicht sagen: Da sollen sich die Lehrerinnen und Lehrer darum kümmern. Die sollen sich um ihren ureigensten Job kümmern und den bestmöglichen Unterricht bieten.

STANDARD: Für Ihre eigenen Kinder bevorzugen Sie Privatschulen?

Meinl-Reisinger: Als Volksschule habe ich eine private gewählt, weil es im Umfeld keine öffentliche ganztägige gibt. Die ältere Tochter geht inzwischen in ein öffentliches Gymnasium.

STANDARD: Von der Schule zum richtigen Leben: Was wird denn in der Schule zu wenig gelehrt?

Meinl-Reisinger: Ich bin ein Fan humanistischer Bildung und habe sie auch selbst genossen. Aber ich würde jedenfalls ein Augenmerk auf Naturwissenschaften legen. Aufholbedarf haben wir in zwei Bereichen: Digitalisierung – sowohl das Verständnis für Coding, das Verständnis von Technik und Medien als auch der Einsatz von neuen Medien im Unterricht kommen viel zu kurz. Ich war kürzlich in einer Schule in Alpbach, und da ist immer noch ein Overheadprojektor gestanden ... Na ja. Und der zweite Bereich ist die Persönlichkeitsentwicklung – das Kennenlernen der eigenen Fähigkeiten, aber auch der eigenen Grenzen.

STANDARD: Apropos Medienkompetenz: Wie stehen Sie denn zur Deanonymisierung von Postings im Internet?

Meinl-Reisinger: Ich sehe die Klarnamenpflicht kritisch: Denn ich glaube, dass die Gesellschaft Räume braucht, wo man sich nicht sofort deklariert und trotzdem seine Meinung äußern darf. Gerade im STANDARD-Forum habe ich den Eindruck, dass da oft Leute posten, die eine Ahnung haben, vielleicht sogar aus einem Fachbereich kommen und Insiderinformationen weitergeben können, was sie unter ihrem Klarnamen nicht könnten, weil da der Arbeitgeber etwas dagegen hätte. Außerdem: Die fürchterlichsten und hässlichsten Kommentare habe ich von Leuten mit Klarnamen bekommen – der Klarname schützt nicht vor Aggressivität und schon gar nicht vor Niveaulosigkeit.

STANDARD: Ihr möglicher Koalitionspartner ÖVP sieht das anders.

Meinl-Reisinger: Und auch die Freiheitlichen. Ich habe mich gewundert, dass eine Partei, die Freiheit zumindest im Namen trägt, so schnell bereit ist, bürgerliche Freiheiten aufzugeben.

STANDARD: Sie werden aber nicht in die Verlegenheit kommen, mit den Freiheitlichen zu koalieren?

Meinl-Reisinger: Das will ich auch nicht ...

STANDARD: Aber mit ÖVP und Grünen – was laut Umfragen die beliebteste Koalitionsvariante wäre – würden Sie koalieren?

Meinl-Reisinger: Mal sehen, ob es sich ausgeht. Ich bin überzeugt, dass es unserem Land nicht guttut, wenn die FPÖ wieder in die Regierung kommt. Ich bin bereit, Verantwortung zu übernehmen. Aber das heißt nicht, dass ich dem Herrn Kurz billig den Schlüssel zum Ballhausplatz in die Hand drücken würde. Deshalb empfehle ich jedem, der nicht jeden Tag von einem "Einzelfall" aus regierungsnahen Kreisen überrascht werden möchte, Neos zu wählen, damit es eine Alternative dazu gibt.

STANDARD: Und damit es mit den Grünen klappt, haben Sie sich jetzt auch der Umweltthemen angenommen, Stichwort CO2-Konzept?

Meinl-Reisinger: Ich beschäftige mich nicht so sehr damit, was die anderen sagen, aber mich hat schon überrascht, dass wir die einzige Partei sind, die ein ökosoziales Steuerkonzept auf den Tisch gelegt hat. Da ist die Abschaffung der kalten Progression ebenso enthalten wie das Bekenntnis dazu, dass wir eine CO2-Steuer brauchen. Bei dem Thema lavieren alle anderen herum. (Conrad Seidl, 20.09.2019)