Libyen-Experte Wolfram Lacher war am Donnerstag im Kreisky-Forum zu Gast.

Foto: Bruno Kreisky Forum für internationalen Dialog

Wien – Die Truppen des Generals Khalifa Haftar, der den Osten und somit auch die Ölfelder Libyens kontrolliert, standen am 5. April dieses Jahres überraschend vor den Toren von Tripolis. Die Einnahme der Hauptstadt im Landeswesten sollte kurz und bestimmt ablaufen. Stattdessen ist mit der militärischen Offensive ein neuer Krieg – Libyens dritter Bürgerkrieg – ausgebrochen, der bis heute anhält.

"Haftar hat sich verkalkuliert", sagt der Libyen-Experte Wolfram Lacher von der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin, der am Donnerstagabend bei einer Veranstaltung des Kreisky-Forums in Wien im Rahmen der Serie "Arab Changes" zu Gast war, die von STANDARD-Redakteurin Gudrun Harrer kuratiert und moderiert wird.

Haftar ist zwar für den Kriegsausbruch verantwortlich, aber nicht nur er habe sich verschätzt. "Auch der Westen wollte glauben, dass Haftar es schaffen könnte, Tripolis schnell unter seine Kontrolle bringen", so Lacher. Die westlichen Reaktionen auf die Offensive seien sehr verhalten gewesen. Man habe etwa verabsäumt, Haftar als Aggressor zu bezeichnen.

Der Westen wartet ab

Inzwischen wisse man, dass John Bolton, der ehemalige Nationale Sicherheitsberater von US-Präsident Donald Trump, dem 75-jährigen General in einem Telefonat sogar das Okay für den Truppenaufmarsch gegeben hat – "if you must do it, do it quickly". Und dass Frankreich der Offensive Haftars politische Deckung gab und US-Panzerabwehrraketen zur Verfügung stellte – obwohl Paris offiziell die machtlose, aber international anerkannte Regierung von Fayez al-Serraj unterstützt.

Angesichts der fehlenden militärischen Erfolge Haftars hat der Westen nun eine abwartende Haltung eingenommen, sagt der Libyen-Experte. Es seien die Luftangriffe durch die Vereinten Arabischen Emirate und Ägypten, die dafür sorgen, dass Haftars Truppen nicht zum Rückzug aus den südlichen Vororten von Tripolis gezwungen werden, wo sie seit den frühen Kriegstagen im April festsitzen. Ihnen gegenüber steht eine Vielzahl an Milizen, die die 2015 mit Uno-Vermittlung zustande gekommene Regierung Serrajs unterstützen.

Ein fehleingeschätzter Konflikt

Lacher macht es in seinem Vortrag im Kreisky-Forum sehr deutlich: Die Strukturen in Libyen sind komplex. So verlockend es auch sei, die Situation als einen Krieg zwischen Osten und Westen des Landes, zwischen vermeintlicher "Armee" und Milizen, zwischen Verfechtern der Demokratie und jenen der Autokratie oder zwischen Haftar und der legitimen Regierung zu bezeichnen – all diese Narrative seien falsch.

Ja, das Land sei wie auch schon in vorherigen dramatischen Episoden seit dem sogenannten Arabischen Frühling in zwei Lager polarisiert. Allerdings zeige ein genauer Blick, wie schwach die Allianzen zwischen den einzelnen Milizen seien, die diese Lager ausmachen. Lacher betont, dass das im Westen gängige Bild der "mafiösen" und "barbarischen" libyschen Kämpfer nur auf wenige Gruppen zutreffe. Die "bewaffneten Gruppierungen aus Freiwilligen" im Westen, sagt er, eine vor allem die Ablehnung einer neuerlichen Militärdiktatur unter Haftar wie zu Zeiten des Diktators Muammar al-Gaddafi.

Sollte es den gemeinsamen Feind eines Tages allerdings nicht mehr geben, könnten diese Milizen wohl wieder aneinandergeraten. Auch auf Haftars Seite, der nach seinem eigenen Verständnis das Land von Islamisten befreien will, stünden mehrere Gruppen mit eigenen Ressourcen und Interessen.

Weitere Konflikte wahrscheinlich

Lacher glaubt nicht daran, dass es Haftar im Rahmen dieser Offensive gelingen wird, den Westen des Landes einzunehmen. Auch hält er ein Abkommen zwischen den beiden Seiten für unwahrscheinlich. Im Moment herrsche im Krieg, der sich im Großraum Tripolis abspielt, ein Kräftegleichgewicht. Der Konflikt habe zu Arrangements geführt, die etwa bedeuten, dass Öleinnahmen weiterhin im ganzen Land, wenn auch ungleich, verteilt werden.

Das wirklich Gefährliche an dem aktuellen Krieg sei, dass die Lage den Ost-West-Graben vertiefe und neue Gräben ziehe. "Auf lange Frist werden weitere Konflikte und gar eine Spaltung des Landes immer wahrscheinlicher", sagt Lacher. (Flora Mory, 20.9.2019)