Der Tatort im Amsterdamer Wohnviertel Buitenveldert.

Foto: AFP/ANP/MICHEL VAN BERGEN

Es war Mittwochfrüh, etwa 7.30 Uhr, als Derk Wiersum sein Zuhause im Amsterdamer Viertel Buitenveldert verließ – und zwar für immer. Auf offener Straße wurde der 44-jährige Anwalt erschossen. Seine Frau, die ihn begleitete, blieb unverletzt. Der weiterhin unbekannte Täter floh nach dem Mord zu Fuß – und hinterlässt ein Land in Schockstarre. Denn Wiersum hatte in einem Megaprozess gegen die Drogenmafia den Kronzeugen vertreten.

Vom Premierminister abwärts zeigten sich zahlreiche hohe Amtsträger schockiert. Das Attentat sei "extrem verstörend", erklärte Regierungschef Mark Rutte. Justizminister Ferdinand Grapperhaus nannte es einen "Angriff auf unseren Rechtsstaat", man habe die organisierte Kriminalität "wuchern" lassen. Jan Struijs, Chef der Polizeigewerkschaft NPB, bezeichnete die Niederlande als "Drogenstaat", und Amsterdams Bürgermeisterin Femke Halsema sprach von einem "unvorstellbaren Schock".

"Ich bin Derk Wiersum, Rechtsanwalt"

Auch Wiersums Berufskollegen meldeten sich zu Wort. Einige veröffentlichten Bilder von sich mit einem Foto des Ermordeten in der Hand, dazu schrieben sie: "Ich bin Derk Wiersum, Rechtsanwalt." Es erinnert an die Solidarität nach den Attentaten auf die französische Satirezeitung "Charlie Hebdo" ("Je suis Charlie").

Bandenkriminalität ist in den Niederlanden nicht neu, doch der Mord an Derk Wiersum zeigt unmissverständlich und schmerzhaft zugleich auf, dass der Staat dagegen offenbar machtlos ist. Es sei eine "neue Grenze überschritten worden", sagte Amsterdams Polizeichef Erik Akerboom. Man könne nicht mehr akzeptieren, dass das Land durch Kriminelle unterwandert werde.

Derk Wiersum hatte einen heiklen Job angenommen. Er vertrat Nabil B. im sogenannten Marengo-Prozess. Der war einst Mitglied in der gleichnamigen Bande, wechselte dann aber die Seiten, als aufgrund einer Verwechslung ein guter Bekannter erschossen wurde. Selbst als kurz darauf sein Bruder ermordet wurde, hielt er daran fest, auszupacken. Mittlerweile sollen seine Aussagen rund 1.500 Seiten umfassen. B., der selbst an Morden beteiligt war, belastet die Bande mit insgesamt 13 Morden und Mordversuchen.

Auf der Most-wanted-Liste

Die Marengo-Bande wird mutmaßlich von Ridouan T. und seiner rechten Hand, Said R., geführt. Sie gelten als die meistgesuchten Kriminellen des Landes, zudem finden sie sich auf der Most-wanted-Liste von Europol. Jeweils 100.000 Euro Belohnung sind ausgelobt für Hinweise, die zur Ergreifung führen. T. galt lange als Phantom, bis vor wenigen Jahren war nicht einmal seine Existenz bekannt. Erst mithilfe der Informationen von Kronzeuge B. gelang es, die Identität des Kopfes der Marengo-Bande zu klären. Nur wo er steckt, darüber gibt es nicht einmal ansatzweise Informationen.

Laut niederländischer Polizei und Medien soll T. zuerst in den internationalen Haschisch- und dann in den Kokainschmuggel sowie -handel eingestiegen sein. Der Multimillionär marokkanischer Herkunft soll Villen in mehreren Ländern besitzen und äußerst brutal gegen Gegner vorgehen – vor allem aber gegen jene Bandenmitglieder, von denen er vermutet, Spitzel zu sein. "Wer redet, geht", lautet die Parole der Bande – wobei "geht" natürlich ein Euphemismus für das Schicksal ist, das nun auch Anwalt Wiersum zuteil wurde.

Die Marengo-Bande ist wahrscheinlich in den seit über einer Dekade geführten sogenannten "Mocro-Krieg" in Amsterdam involviert, der im Drogenmilieu zwischen mehreren Gruppierungen von Männern marokkanischer Herkunft geführt wird. "Mocros" werden in den Niederlanden umgangssprachlich Menschen mit marokkanischen Wurzeln genannt.

Abgetrennte Köpfe im "Mocro-Krieg"

Medienberichten zufolge begann der Krieg 2012 mit dem Verschwinden einer Kokainlieferung im Hafen in Antwerpen. Er wird äußerst brutal geführt, jährlich kommt es zu fast einem Dutzend Morden, abgetrennte Köpfe wurden gefunden, und bei Schießereien auf offener Straße starben auch Unbeteiligte. Eingedämmt werden konnte das alles bislang nicht.

Ein Anfang September veröffentlichter Bericht des Sozialwissenschafters Pieter Tops und des Journalisten Jan Tromp bescheinigte Amsterdam ein gravierendes Drogenproblem. Im Zusammenhang damit habe organisierte Kriminalität einen großen Einfluss auf die Stadt. Die Polizeigewerkschaft NPB vertritt dazu die Ansicht, die Politik unterschätze die Drogenkriminalität. Justizminister Grapperhaus hatte dies bereits letztes Jahr zurückgewiesen und dabei auf Personalmangel bei den Behörden verwiesen.

Warnungen von Anfang an

Und wie geht es nun weiter im Marengo-Prozess? Der niederländischen Zeitung "Telegraaf" sagte ein Mitglied der Familie des Kronzeugen, man sei "nicht überrascht" über den Anschlag auf den Anwalt: "Wir haben die Polizei und die Staatsanwaltschaft von Anfang an gewarnt, dass alle an diesem Prozess Beteiligten in Gefahr sind." Derk Wiersum hatte selbst Morddrohungen erhalten, aber trotzdem auf Personenschutz verzichtet.

Am Dienstag soll der Prozess fortgesetzt werden. Niederländische Medien spekulieren, ob Nabil B. nach der Ermordung seines Anwalts weiter bereit ist, auszusagen. (ksh, 20.9.2019)