Helga Rohra war auf Einladung des Pflegehauses St. Katharina der Barmherzigen Schwestern in Wien: "Demenz ist nie das Ende, sie ist immer der Anfang eines ganz anderen Lebens."

Foto: Barmherzige Schwestern Pflege GmbH / Bubu Dujmic

Wer Helga Rohra auf der Bühne sieht, merkt nicht, dass sie Wörter, Termine und Personen vergisst. Dass sie plötzlich nicht mehr weiß, an welchem Ort sie sich befindet. Vor rund zehn Jahren erhielt sie die Diagnose Lewy-Body-Demenz. "Was einmal Routine war, verschwindet in einer Nebelwolke", erzählt sie. Fast 1000 Vorträge hat die heute 66-jährige Münchnerin über ihre Erkrankung gehalten. Sie möchte ihre Geschichte erzählen, will Mut machen: "Demenz ist nie das Ende, sie ist immer der Anfang eines ganz anderen Lebens, das trotz der Erkrankung erfüllt sein kann." Wer erlebt hat, wie sich Helga Rohra in ihrem sportlich-legeren Anzug und silberfarbenen Sneakers fast leichtfüßig auf der Bühne bewegt und nahtlos Satz für Satz aneinanderreiht, glaubt ihr diese Botschaft.

Begonnen hat ihr "ganz anderes Leben" im Sommer 2008. Helga Rohra arbeitete als Simultanübersetzerin, medizinische Fachkongresse zur Neurologie waren ihr Spezialgebiet. Mehrere Fremdsprachen beherrschte sie fließend. Englisch, Französisch, Finnisch, Italienisch, Spanisch, Rumänisch. Immer öfter kam es vor, dass ihr einzelne Fachvokabeln nicht mehr einfallen wollten. Die Symptome häuften sich, sie begann Wörter zu verwechseln: Statt "Schau, da kommt der Hausmeister" sagte sie "Schau, die Haussocke". Damals dachte sich die 55-Jährige, sie sei einfach erschöpft.

Als sie eines abends den Laptop einschaltete, wusste sie nicht mehr weiter. Sie hatte nicht nur das Passwort vergessen, sondern auch wie man Wörter mit der Tastatur tippt. Ein paar Tage später geschah etwas Merkwürdiges. Helgar Rohra bekam Halluzinationen. Sie begann den Film ihres Lebens zu sehen: Szenen aus ihrer Kindheit und Jugend, als junge Frau in gelben Jeans mit Sonnenbrille, die Geburt ihres Sohnes Jens, sein erster Schultag, Urlaubserlebnisse mit ihrem Ex-Mann. Die Szenen aus der Vergangenheit werden zum ständigen Begleiter. Helga Rohra bekam Angst. "Das ist sicher ein Hirntumor", dachte sie und ging zum Neurologen. Der Fachmediziner stellte die Diagnose Burnout, riet ihr, sich ein paar Monate Auszeit zu gönnen und spazieren zu gehen. Sie befolgte den ärztlichen Rat, nahm sich frei, schaffte sich einen Hund an und ging spazieren.

Klare Strukturen und Selbstdisziplin

Die Symptome verschlimmerten sich, die Medikamente gegen die Halluzinationen machten sie apathisch und depressiv. Ihre Freunde reagieren mit Unverständnis. "Du wirst ja von Minute zu Minute dümmer", war ein Satz, den sie damals immer wieder zu hören bekam. Mehr als ein Jahr dauerte es, bis die Ärzte Lewy-Body-Demenz, nach Morbus Alzheimer die zweithäufigste Demenzform, diagnostizierten. "Ich bin stark, ich schaffe das", wurde zu ihrem neuen Lebensmotto.

Heute ist jeder Tag geprägt von klaren Strukturen und Selbstdisziplin. Zum täglichen Programm zählen viel Bewegung, Meditation, ausgewogene Ernährung und Routinen, die Medikamente gegen die Halluzinationen hat sie abgesetzt. Die Lebensmittel im Kühlschrank haben stets denselben Platz, die tägliche Zeitungslektüre ist ebenfalls ein Fixpunkt. "Ich markiere Textstellen, schreibe sie mit der Hand ab, und mein Sohn fragt mich dann, was ich mir gemerkt habe", erzählt Rohra.

Ihren gut dotierten Beruf musste sie 2008 aufgeben, seit Jänner 2019 ist sie in Pension. Deutsch und Englisch spricht sie noch fließend, die anderen Sprachen hat sie vergessen. Helga Rohra begann Bücher über ihr Leben mit Demenz zu schreiben, alles handschriftlich, das Tippen auf einer Tastatur hat sie verlernt. Wenn sie sich auf einen Vortrag vorbereitet, liest sie jede Woche mehrmals ihre beiden Bücher. "Ich habe jede Zeile im Kopf", sagt sie stolz.

Inklusion statt Mitleid

Rohra ist sich bewusst, dass ihre Art, mit Demenz zu leben, nicht für alle gelten kann. "Allein in Deutschland gibt es aber 24.000 an Demenz erkrankte Menschen zwischen 45 und 65 Jahre. Viele davon wollen arbeiten", sagt sie.

Dazu müsste ein Umdenken stattfinden, das den Fokus auf die noch vorhandenen Ressourcen und nicht auf die Defizite richtet. "Wer in Großbritannien bei der Post arbeitet und an Demenz erkrankt, wird nicht aussortiert, sondern seinen Fähigkeiten entsprechend weiter eingesetzt", sagt Rohra.

Was sie noch im Umgang mit Demenzerkrankten fordert: Begegnung auf Augenhöhe. "Ich bin dement, na und? Es geht mir darum, das Bild von Menschen mit Demenz in der Gesellschaft zu ändern. Wir sprechen für uns selbst und wollen gehört werden." (Günther Brandstetter, 21.9.2019)