Die Wählerstromanalyse ist längst zum Inventar jedes Wahlabends geworden. Bunte Pfeile unterschiedlicher Stärke führen von einer Partei zur anderen, die im Detail nicht unkomplizierten Berechnungen sollen Politikern, Journalisten und Wählern helfen, demografische Umbrüche zu erkennen und Wahlmotive zu verstehen.

Das Sozialforschungsinstitut Sora hat in Kooperation mit dem Haus der Geschichte Österreich die Wählerbewegungen der 27 Parlamentswahlen seit der Ausrufung der Ersten Repbulik ausgewertet – wir laden Sie ein, in unserer interaktiven Visualisierung zu erkunden. Mehr über die Hintergründe finden Sie im Anschluss in der Analyse von STANDARD-Kolumnist Hans Rauscher.

Downloads und Codebook im Austrian Social Science Data Archive (AUSSDA)

Foto: APA/dpa/Frank Rumpenhorst
Analyse von Hans Rauscher

Man könnte ins Grübeln kommen. 1919, vor hundert Jahren, fanden die ersten Wahlen der Republik statt. Danach bildeten Christlich-Soziale und Sozialdemokraten für kurze Zeit eine Koalition. 1920 war es vorbei damit. Die ziemlich rechten (massiv antisemitischen) Christlichsozialen kamen auf 42 Prozent, die Deutschnationalen auf 17 Prozent – eine satte rechte Mehrheit von fast 60 Prozent gegen die Sozialdemokraten mit 36 Prozent.

Bei diesen Mehrheitsverhältnissen blieb es die ganze Erste Republik bis 1934. Die Rechten bildeten auch gleich eine Koalition, was ebenfalls bis zum Schluss dreimal wiederholt wurde.

Nun ein Riesensprung ins Jahr 2017: Mitte-rechts bekam zusammen eine satte Mehrheit von 57,5 Prozent – die auch ziemlich rechte "Liste Kurz" 31,5 Prozent, die sehr rechte FPÖ rund 26 Prozent. Beide bildeten sofort eine Koalition, die nur bis Frühsommer 2019 währte. Linke und Liberale kamen zusammen auf 36 Prozent (SPÖ 27 Prozent, Neos 5,3 Prozent, Grüne 3,8 Prozent).

Für die Wahlen nächste Woche ist prognostiziert: Liste Kurz / ÖVP rund 35 Prozent, FPÖ rund 20 Prozent, eine satte rechte Mehrheit von 55 Prozent. SPÖ, Grüne, Neos zusammen bestenfalls 43 Prozent.

Wieder beim rechtskonservativen Block angelangt?

Kann man daraus den Schluss ziehen, dass sich in den vergangenen hundert Jahren an der groben Aufteilung der politischen "Lager" zwischen einem großen rechten und einem kleineren linken Block nichts geändert hat? Trotz enormer sozialer Umwälzungen, starken Rückgangs der bäuerlichen Bevölkerung, Ausdünnens der katholischen Kultur, Emanzipation der Frauen, Anwachsens der Bildungsschicht, Aufstieg des Proletariats und trotz des völligen Verschwindens des deutschnationalen Anschlussgedankens?

Sind wir nach gewaltigen Umwälzungen wie dem antidemokratischen Ständestaat 1934-1938, der Naziherrschaft 1938-1945, nach jahrzehntelangen Großen Koalitionen zwischen ÖVP und SPÖ wieder beim rechtskonservativen Block von 1920-1934 angelangt?

Man wird nicht so leicht einen Soziologen oder Politologen finden, der das ohne Weiteres bejaht. Tatsächlich zeichnen die Experten von Sora, einem führenden sozialwissenschaftlichen Institut Europas, ein Bild von "100 Jahren WählerInnendynamik", das doch sehr starke Veränderungen aufweist: Die ursprüngliche Dominanz der "Stammwähler" (bis 1970 80 bis 90 Prozent) sei abgelöst worden durch immer mehr Wechselwähler. 2017: 37 Prozent. Die alten Blöcke sind auch in sich stärker aufgespalten. Die Grünen kommen teils von der SPÖ, teils von der ÖVP, die Neos ebenfalls. Die FPÖ hat sowohl von der SPÖ als auch von der ÖVP abkassiert. Eine ganz starke Aufspaltung, nämlich in Stadt/Land, gab es übrigens 2016 bei den Bundespräsidentenwahlen zwischen Alexander Van der Bellen und Norbert Hofer.

Die Sora-Leute haben fulminant nachgezeichnet, wer sich in 100 Jahren als Wähler von wo wohin bewegt hat. Die Wählerstromanalysen seit 1920 zeigen: Es gibt Wanderungen innerhalb, aber auch Verschiebungen zwischen den Lagern: Dass die Kreisky-SPÖ ab 1971 dreimal die "Absolute" schaffte, hängt außer mit dem Zeitgeist (Modernisierung, 1968) auch damit zusammen, dass Bruno der Große sowohl bürgerlich-liberale Wähler als auch die Angehörigen der "Kriegsgeneration" (teilweise mehr oder weniger Nazis) herüberziehen konnte. Beim 51-Prozent-Triumph von 1979 kamen fünf Prozent von der ÖVP.

Podcast: Michael Matzenberger und Hans Rauscher erklären, was sich in 100 Jahren des Wählens geändert hat in Österreich und was gleich geblieben ist.

Geschichte der sich wandelnden Mentalitäten

Der größte Wählerstrom in absoluten Zahlen erfolgte 2002 von der Haider-FPÖ zur Schüssel-ÖVP. Die Knittelfeld-Rebellen hatten Schwarz-Blau I gesprengt, daraufhin stürzte die FPÖ von ihrem Allzeithoch von 27 Prozent 1999 auf zehn Prozent ab, sie verlor 753.000 Stimmen, davon 630.000 an die Schüssel-ÖVP. Aber der zweitgrößte Wählerstrom war 1994 der Wechsel von 228.000 Wählern von der Vranitzky-SPÖ zur FPÖ. Die Ursachen? Nachwehen der Verstaatlichtenkrise – und der Zustrom von 90.000 Flüchtlingen aus dem Bosnienkrieg.

Der größte Bruch war 1945, als fast eine Million Ex-Nazis nicht wählen durften. Als sie es 1949 wieder konnten, ging je ein Drittel zu ÖVP, SPÖ und dem FPÖ-Vorläufer VdU.

Die Geschichte der Wahlbewegungen ist auch eine Geschichte der sich wandelnden Mentalitäten, von Konflikten zwischen Parteitradition und persönlicher Haltung, Interessen und Loyalitäten. Inzwischen ist die FPÖ, die früher eine Freiberufler- und Beamtenpartei war, die größte Arbeiterpartei. Die Arbeiter denken eben auch autoritär rechts – und sie fürchten die Zuwanderer. Den Neos ist die ÖVP zu rechts, den Grünen die SPÖ zu erstarrt.

Es kann aber trotzdem lohnend sein, über die Konstante in der österreichischen politischen Struktur nachzudenken. Es gibt einen größeren eher rechten und einen kleineren eher linken und liberalen Block. Eine rechte Mehrheit ist in Form einer Regierungskoalition jederzeit darzustellen, eine linke nicht. Eine Rechts-links-liberal-Koalition aus Türkis, Grün und Pink hatten wir noch nicht. (Hans Rauscher, Sebastian Kienzl, Michael Matzenberger, 21.9.2019)