Vielleicht betrete ich diesen Themenraum von einem Seiteneingang, dem Prager Frühling 1968, der den heutigen jungen Tschechinnen und Tschechen ein nur noch fernes und unbekanntes Ereignis ist, das mehr an eine Gartenschau als an eine historische Wegmarke in der Geschichte ihres Landes erinnert. Prag 1968 ist das vergessene, verdrängte Datum.

Willkommenskultur anno 1989, Grenzübergang Berg, Niederösterreich: STANDARD-Fotograf Robert Newald dokumentierte den ersten Tag der freien Ausreise für die CSSR-Bürger und -Bürgerinnen.
Foto: Robert Newald

Eine Erinnerungsspur führt mich zurück an eine Straßenecke, an der ein junger Mensch – der Autor dieses Textes – mit zwei anderen Jungen über die Hoffnungen eines demokratischen Sozialismus sprach als des unmöglichen Dritten zwischen den damaligen Frontlinien des Kalten Krieges. Im Sinn einer alternativen Weltgeschichte sei es gestattet, sich zu überlegen, was geschehen wäre, wenn damals in Moskau statt Breschnew, sagen wir, Gorbatschow regiert hätte und der Prager Frühling sein Reformprojekt hätte realisieren können.

Die Welt – und vor allem Europa – würde heute anders aussehen. Die Transformation der Wirtschaft ist von den linken Reformern damals viel behutsamer ins Auge gefasst worden als in den Jahren nach 1989. Der ökonomische Abstand zwischen Österreich und seinem nördlichen Nachbarn war unerheblich. Stattdessen lebten unsere Nachbarn noch eine weitere Generation in einem Regime, das Kafkas Welt mit einer abstoßenden Version eines eingerosteten Marxismus-Leninismus verband, jenes soziale und symbolische Gemisch, dem Havel mit dem Anspruch begegnete, in der Wahrheit leben zu wollen.

Beschleunigungspotenzial

Im November 1989, viele Jahre später, befand ich mich in Begleitung meiner Frau auf der Fahrt von meiner kleinen Waldviertler Stadt nach Brünn/Brno, es war kurz nach dem Beginn der kollektiven Unbotmäßigkeit der Tschechen, die mit dem 17. November begann und Ende 1989 mit der Bestellung Havels zum Staatspräsidenten endete. Wir parkten das Auto am Stadtrand, stiegen in die Straßenbahn um und ließen uns zum Streikkomitee an der Universität bringen.

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Am Tag nach der Öffnung steigen Menschen am 10. Nov. 1989 auf die Berliner Mauer vor dem Brandenburger Tor in Berlin.
Foto: AP

Solch manifesten und sichtbaren Revolutionen, die Ereignisse und nicht Prozesse sind, wohnt ein Beschleunigungspotenzial inne. Binnen kürzester Zeit organisierten wir zusammen an der österreichisch-tschechischen Grenze in Langau im Waldviertel eine Solidaritätsveranstaltung mit hunderten Beteiligten.

Kurze Zeit später saßen Studenten in einem österreichischen Gasthaus an der Grenze, lauschten wie gebannt den Worten ihres frischgebackenen Präsidenten, der vor noch nicht langer Zeit ihr prominentester Gefangener gewesen war. Das war die Zeit der großen Hoffnungen. Wie in allen Revolutionen hält die "Hochzeit" nicht an. Der Alltag mit seinen Problemen stellte sich nur allzu schnell ein.

Über die Euphorie dieser Tage ist viel geschrieben worden, und doch kamen diese Ereignisse für viele überraschend – und ungelegen. Ich vermute, dass sich schon damals der Niedergang der demokratischen Linken im Westen wie im Osten am historischen Horizont abzuzeichnen begann, aber er wurde durch die Ereignisse von 1989 sichtbar beschleunigt. Nicht verschwiegen werden soll, dass die Revolutionäre von 1989 nur wenig mit ihren linken Vorgängern von 1968 anfangen konnten.

Jahrhundert abgewählt

Die neue weltgeschichtliche Situation, das war und ist das Ende des realen Sozialismus. Das Scheitern des Sozialismus war schon vor 1989 absehbar, wie die Transformation der Kommunistischen Partei Italiens, des PCI, in eine mehr oder minder sozialdemokratische Partei zeigt, die sich programmatisch vom Erbe der Oktoberrevolution lossagte. In England machte sich eine konservative Politikerin mit Erfolg daran, den von Labour geschaffenen Sozialstaat einzustampfen.

Bis heute fällt es schwer, die Umwälzungen von 1989 philosophisch zu deuten, etwa unter Zuhilfenahme des theoretischen Bestecks eines Karl Marx. Der britische Zeithistoriker Timothy Garton Ash, einer der wenigen westlichen Tatzeugen der Samtenen Revolutionen, hat 1990 davon gesprochen, dass ein Jahrhundert abgewählt wurde. Er stellte die Ereignisse in eine Traditionslinie, indem er zwischen 1848 und 1989 eine mehr oder minder direkte Linie zog. 1989 war – im Gegensatz zu 1968 – die Rückkehr zu jenen bürgerlichen Revolutionen, deren Format und Rahmen anno 1848 ein neues Gebilde war: der Nationalstaat. Was dem russischen post-imperialen Spätstalinismus 1989 abgerungen wurde, war – freilich unter völlig veränderten gesellschaftlichen Bedingungen – das Glück des eigenen, selbstgenügsamen Nationalstaats, der nach Umwegen endlich Wirklichkeit geworden war.

1989 ist das Jahr, in dem überall in den ehemaligen Ostblockstaaten der Abbau des Eisernen Vorhangs begann. Unsichtbare Grenzen gibt es bis heute.
Foto: APA

Die damit verbundene Hypothek hat Ash wie andere auch freilich übersehen. Der britische Historiker beschreibt in seinem Buch zu den Umwälzungen im Osten Europas den Eifer des jungen Victor Orbán, der so schnell wie möglich aus dem Warschauer Pakt austreten will, er erwähnt gewisse nationalistische Tendenzen, aber die Rückkehr zu einer nationalistischen Politik eines Sacro Egoismo hat er nicht voraussehen können.

Der britische Zeithistoriker Timothy Garton Ash hat 1990 davon gesprochen, dass ein Jahrhundert abgewählt wurde. Er zog zwischen 1848 und 1989 mehr oder minder eine direkte Linie.

Wie denn auch? Waren doch die Helden dieser Revolution wie Havel, Michnik oder Konrad urbane liberale Intellektuelle, die mit dem späteren Chauvinismus ihrer postkommunistischen Nachfolger nichts zu tun hatten. Sie erlebten für einen kurzen Moment ihren Kairos, der sie in die Lage versetzte, das unrühmliche Ende des Regimes einzuläuten, ohne ein Konzept für eine Transformation einer autoritären Staatseigentumsgesellschaft von Taschengeldbeziehern in eine – soziale – Marktwirtschaft zu besitzen.

Neuer Nationalismus

Hinter dem Pathos einer friedlich errungenen neuen Demokratie und dem Fall der sichtbaren Grenzen verbargen sich all jene explosiven Probleme, die sich nicht nur durch revolutionäre Ereignisse, sondern vor allem durch langwierige Prozesse verschieben und verändern: der schlummernde Nationalismus, die wilde Transformation des Wirtschaftssystems, die eher an Marx' ursprüngliche Akkumulation des Kapitals erinnerte als an eine überlegte Transition und die anhaltende ökonomische Ungleichheit zwischen Ost und West. Aus dieser Schieflage speist sich der anti-europäische Affront in den Visegrád-Staaten.

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Präsidentschaftskandidat Vaclav Havel winkt am 19. Dezember 1989 in Prag zu seinen Anhängern.
Foto: Reuters/Petar Kujundzic

Dieser neue Nationalismus wurde indes schon bald nach den unschuldigen Anfängen der Revolutionen im Osten Europas sichtbar, etwa in Figuren wie Vladimír Meciar oder später Václav Klaus. Was Ash vollkommen ausspart, aber was in das Panorama von 1989 gehört, ist der Zerfall nicht nur der Tschechoslowakei, sondern auch jener Jugoslawiens. Die Anknüpfung an die Nationsbildungsprojekte von 1848 setzte einen nationalen Revisionismus in Gang, der im Europa der EG/EU, die sich als transnationales Projekt, als ein "work in progress" verstand, programmatisch nicht vorgesehen war.

Die unsichtbaren Grenzen

Zum Pathos der revolutionären Umwälzungen von 1989 gehört auch der Fall der Berliner Mauer und des Eisernen Vorhangs. Deutschland und Europa sollten nach 50 oder gar 70 Jahren Trennung wieder zusammenwachsen. Verdächtig ist an dieser Formel im Nachhinein nicht nur die organische Metaphorik, sondern auch die durch nichts belegbare Behauptung, dass dieser Raum vor dem Kalten Krieg harmonisch gewachsen war, ganz im Gegenteil war Zentraleuropa in einem ungeahnten Ausmaß in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ein Schlachtfeld von Toten, Vertriebenen und Ermordeten – nicht zuletzt angetrieben von jenem Nationalismus, den das nach 1945 erschöpfte Europa zu überwinden trachtete und der nunmehr in der EU wieder unfröhliche Einkehr hält, so als wäre nichts geschehen.

Die sichtbaren Grenzen sind gefallen, die ehemaligen Warschauer-Pakt-Staaten sind Teil der mittlerweile kräftig zerstrittenen europäischen Familie. Aber der Friede nicht nur des Kalten Krieges, sondern auch des europäischen Projektes beruht auf dem fast magischen Verbot, Grenzen zu verändern. Die Vereinigung der beiden deutschen Staaten, die friedliche und einvernehmliche Scheidung der Tschechoslowakei und der blutige Zerfall Jugoslawiens haben Grenzen verändert.

Die Rückkehr zum verdeckten Datum von 1848 hat zu einer Renaissance jenes Nationalismus geführt, der sich dadurch auszeichnet, dass er strikte Grenzen zwischen dem Eigenen und dem Anderen ziehen möchte. Was schon bald nach 1989 aufgebrochen ist, das ist das Erbe von Postimperialismus, Nationalismus und autoritären Bestrebungen. Es wäre unfair, darin nur einen erfolgreichen Export von Ost nach West zu erblicken, jeder der heutigen Nationalismen hat in Europa seine eigene Geschichte.

Polizisten aus Ost und West kurz nach dem Mauerfall am Potsdamer Platz in Berlin.
Foto: Imago

Europäische Gemeinschaft

Im Hinblick auf das Thema Grenzen lässt sich konstatieren, dass alle diese Regime darauf abzielen, Grenzen vielleicht nicht geografisch zu verändern, wohl aber zu stärken, um sich gütlich und ungestört im eigenen Post-1848er-Nationalstaat einzurichten. Biedermeier im Modus der Aggression. "Fein sein, beinander bleiben", heißt es im einschlägigen deutschen Liedgut. Mit der Rückkehr nach Europa, das die Intellektuellen in Warschau, Budapest und Prag im Sinn hatten, hat das kaum etwas zu tun, eher mit der Abkehr.

Die Westdeutschen und die nach 1945 geschwächte Grande Nation waren wie geschaffen für den Aufbau jenes Europas, dessen Idee schon in die letzten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts zurückreicht und das nun durch die vielfältige Katastrophe von 1945 plötzlich eine ungeahnte Chance erhielt. Dass der Text der deutschen Nationalhymne "Deutschland, Deutschland über alles, über alles in der Welt" nach Hitler, einem verheerenden Weltkrieg und der Shoah eigentlich ausgedient hatte, war ungeachtet der Nachtrauer über verlorene Größe und Reputation eigentlich klar.

Die Ereignisse um 1989 haben vielleicht unbeabsichtigt der Renaissance des Nationalen im Osten wie im Westen des Halbkontinents zum Durchbruch verholfen.

Insbesondere für die Bundesrepublik, das geteilte Land, war die Europäische Gemeinschaft ein Ersatz für den verlorenen Nationalstaat und die Einbußen an realer und symbolischer Macht. Insofern bedeutet 1989/90 einen Einschnitt: die Wiederherstellung eines Nationalstaates unter Verzicht auf die ehemaligen Ostgebiete und selbstredend ohne Österreich, das sich nun vorsichtig auf den Weg zur eigenen Staatlichkeit machte.

Insofern lässt sich sagen, dass sich dadurch die europäische Dynamik und Machtkonstellation nachhaltig verändert hat. So verständlich auch die Freude über den Anschluss der DDR an die Bundesrepublik (und nichts anders war es doch und gewiss nicht die Vereinigung zweier gleichberechtigter Staaten) sein mag – am Wiener Rathaus ließ Bürgermeister Zilk gar die deutsche Fahne hissen -, so hat dieses Ereignis vielleicht unbeabsichtigt der Renaissance des Nationalen im Osten wie im Westen des Halbkontinents zum Durchbruch verholfen. Schon damals, 1989, schillerte der deutsche Begriff des Volkes, der das Subjekt der Demokratie, den"demos", meint, aber auch auf den "ethnos", das unverzichtbare essenzielle Deutsche, verweist.

Unsichtbare Grenzen

Diese Doppeldeutigkeit war auch vor dem sich abzeichnenden Zerfall Jugoslawiens zum Greifen, philosophisch war es der Sieg Herders über Montesquieu und Rousseau. Es waren avantgardistische Dichter, die sich bei den legendären Schriftstellertreffen im slowenischen Vilenica für die unverwechselbare Entität Sloweniens und schon viel weniger für eine liberale Demokratie einsetzten, während sich ihr ehemaliger Freund Peter Handke abseits hielt.

Die unsichtbaren Grenzen sind indes hier wie dort geblieben, momentan wachsen sie sich sogar aus, bekanntlich auch zwischen der alten DDR und der alten BRD. Fälschlicherweise nehmen wir nämlich an, dass Grenzen vornehmlich sichtbar sind, ihren Ursprung haben Grenzen indes nicht so sehr und nicht ausschließlich in territorial wirksamen Grenzlinien, sondern in jenen sozialen Prozessen, in denen Zugehörigkeit und Nichtzugehörigkeit wirksame Momente sind.

Die unsichtbaren Grenzen sind indes hier wie dort geblieben, momentan wachsen sie sich sogar aus, bekanntlich auch zwischen der alten DDR und der alten BRD.

Diese unsichtbaren Grenzen sind Erblasten der Vergangenheit, die nicht enden will und die auf das Ende des Ersten Weltkriegs, auf den Nationalsozialismus und die Shoah, aber auch auf die vielen Vertreibungen danach verweist, die doch nur ein Ziel verfolgten, nämlich die betreffenden Staaten ethnisch und sprachlich möglichst vollständig homogen zu machen, zu "reinigen".

Zu den unsichtbaren Grenzen, gehört auch, dass 1968 in West und Ost verschieden stattgefunden hat, ich meine damit nicht nur den gescheiterten Prager Frühling, sondern auch jene westliche Kulturrevolution, die Lebensstil und -formen, aber auch das Verhältnis der Geschlechter, das Selbstverständnis der Menschen nachhaltig verändert hat. Die einen wollten ein bleischweres System abwerfen, die anderen etablierten eine neue Kultur, von der wir heute wissen, dass sich ihr Lebensstil durchaus mit einer geschmeidigen kapitalistischen Ökonomie verträgt.

Wirtschaftliche Ungleichheit

Wir haben es in Europa mit kollektiven Erfahrungen zu tun, die womöglich inkompatibel sind. Erfahrungsprozesse lassen sich nicht einfach nachholen, sie sind aber in allen Bereichen bis heute wirksam. Die Beliebtheit der Popmusik der 1970er in unseren Nachbarländern, konservativere Lebens- und Geschlechtermodelle oder hierarchischer Strukturen sind Symptome für einen sublimen Unterschied der Kulturen, von dem unsicher ist, wie er sich entwickeln wird, ob er sich vertiefen oder verwischen wird.

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Dresden: 30 Jahre nach der Wende ist der ehemalige Osten noch immer von wirtschaftlicher Ungleichheit betroffen.
Foto: Reuters

Ungeachtet positiver Konjunktursignale ist die wirtschaftliche Ungleichheit zwischen den alten und neuen Mitgliedsstaaten unübersehbar und spiegelt sich in eindimensionalen und fatalen Wanderungsbewegungen von Ost nach West. Dies führt zu unsichtbaren Grenzen, die Distanz erzeugen. Ein Motiv all der Umwälzungen von 1989 war die Hoffnung der Menschen in den kommunistischen Ländern, durch den Systemwechsel baldmöglichst zu ähnlichem Wohlstand zu gelangen wie die westlichen Nachbarn.

Die Enttäuschung über diese Asymmetrien treibt die Menschen in die Hände derer, die Grenzen als Schutz für die Nation verkaufen und die suggerieren, sie wären imstande, aus eigener Kraft Land und Leute zu Wohlstand zu verhelfen. Der Nationalismus der Ärmeren und der Wohlhabenderen stehen sich gegenüber und vereinigen sich im Unbehagen in Europa. Für den Zusammenhalt Europas bedarf es eines alternativen Projekts gegen die neuen und alten nationalen Grenzziehungen.

Es ist sicher, dass die Gegner der Europäischen Union und der mit ihr verbundenen Grenzpolitik (weiche, aber sichere Grenzen zwischen den Mitgliedsstaaten) über kein zielführendes Projekt verfügen, das über die Erosion und Zerstörung der Europäischen Union hinausweist.

Die Erbschaft dieser Zeit

Für eine transnationale Politik sind indes die unsichtbaren Grenzen eine Herausforderung. Um noch einmal auf Ash zurückzukommen: Die tiefere Ursache für die Ungleichzeitigkeit liegt im Charakter der Revolutionen von 1989, die sich als nachholend beschreiben lassen. In dieser Nachholung liegt das eigentliche Problem.

Die Aufgabe, der sich Revolutionäre, die mit Blick auf die Negation des Sozialismus auch, ganz wertneutral, Konterrevolutionäre waren, gegenübersahen, war eine doppelte und schwer miteinander zu verbinden: Sie wollten und mussten eine demokratische Gesellschaft in einem nationalen Rahmen etablieren, einem Rahmen, der fast zur gleichen Zeit in einen europäischen Kontext überführt werden sollte.

Die Enttäuschung über die Asymmetrien zwischen West und Ost treibt die Menschen in die Hände derer, die Grenzen als Schutz für die Nation verkaufen und die suggerieren, sie wären imstande, aus eigener Kraft Land und Leute zu Wohlstand zu verhelfen.
Foto: AFP/ATTILA KISBENEDEK

Dass sich all diese Länder, mit Ausnahme der Slowakei, weigern, in den gemeinsamen Währungsraum einzutreten, ist ein gutes Beispiel für ihre Verfasstheit, für ihr vertracktes Verhältnis zum obskuren Objekt ihrer Begierde, der Nation. Dieses ist zwar auch in den westlichen Ländern nicht vollständig verschwunden, sondern verfügt über ein durchaus stattliches Potenzial, vor allem wenn man die sezessionistischen Bewegungen in das Panorama Europas mit einbezieht.

Aber die unterschiedlichen Erfahrungen und Identitätslagen, die mit der Ungleichzeitigkeit verbunden sind, unterscheiden sich doch beträchtlich. Und vergessen wir nicht eines: Die realsozialistischen Länder waren, um einen Ausdruck von Lévi-Strauss in Anschlag zu bringen, "kalte Kulturen", die im Gegensatz zum Fortschrittspathos ein geringes Veränderungspotenzial besaßen. Die Erbschaft dieser Zeit ist in diese Gesellschaften noch dreißig Jahre nach dem "Sozialismus" in sie und in die Körper der Menschen eingeschrieben. Auch das beschreibt eine Ungleichzeitigkeit, die die urbanen und offenen Gesichter der Akteure von 1989 verdeckten.

Revolution frisst ihre Kinder

In Tschechien war es vor allem Václav Klaus, der ganz unfreiwillig die mit dieser Ungleichzeitigkeit verbundene Zumutung in den Satz goss, dass Brüssel das neue Moskau sei. Für ihn, seinen polternden Nachfolger, aber auch für viele Tschechen ist es klar, für welche Option sich das Land entscheiden soll, vor allem gegen eine zunehmende europäische Integration, die die 1989 errungene nationale Selbstständigkeit bedroht. Dass dies neuerdings mit pro-russischen Sympathien einhergeht, ist mit Blick auf Ungarn befremdlich, aber systemlogisch.

In seinem Buch, einer Kollektion von Berichten und Essays, stellt Ash nicht nur die Frage, wie der Westen den neuen Nachbarn im Osten helfen könnte, vielmehr wollte er von sich und seiner Leserschaft wissen, welchen Beitrag diese für den Westen leisten könnten. Mit Blick auf die damaligen Akteure nannte er wiederum eine kollektive Erfahrung, die den Menschen im Westen erspart geblieben ist, jene mit autoritären und totalitären Regimen.

Wolfgang Müller-Funk, Kulturphilosoph und Literaturtheoretiker, ist dieses Semester Gastprofessor an der Univ. Brno. Er organisiert von 5. bis 7. 12. 2019 die Tagung "30 Jahre Grenze und Nachbarschaft" im Kulturhaus in Safov (CZ) und in der Bildungsstätte Schloss Drosendorf.
Foto: Corn Heribert

Mit dem schon bald einsetzenden Verschwinden der Akteure von 1989 – die Revolution frisst auch hier ihre Kinder – hat sich das ebenso verändert wie die politische Rhetorik. Vergessen wir nicht, dass sich Havel in seiner ersten Neujahrsansprache für die gewaltsame Vertreibung der Deutschen aus der Tschechoslowakei entschuldigt hat. Das war eine transnationale Geste, für die er sehr bald heftig attackiert worden ist. Seither findet der Dialog unter den Nachbarn eher im Stillen statt. Er passt nicht zu einer nationalen Gemütlichkeit, die wir auch in Österreich kennen, die aber nicht bestimmend für einen europäischen Stil sein kann, für den Grenzen etwas sind, das zum Teilen und Mitteilen einlädt.

Für die Mehrheit der Bevölkerung ist das Leben in einem demokratischen Nationalstaat, den man nun am Ende für Europa aufgeben soll, völlig neu. Die selbstkritischen Diskurse sind fremd, und über die jeweilige Vergangenheit will man gar nicht reden. Europa begreift sich seit der Gründung der EWG auch als ein gemeinsamer Raum, in dem die Wunden, die Nationalismus, Faschismus und Stalinismus geschlagen haben, in Worte gefasst werden können.

Dieses Unmögliche leistet vor allem die Literatur, die hier zumindest genannt werden soll. Ich denke an die Werke von Péter Esterhazy, Péter Nádas, Slobodan Snajder, Ingeborg Bachmann oder Francesca Melandri. Von der "Solidarität der Erschütterten" hat der Philosoph Jan Patoèka gesprochen, das hat eine gewisse Ähnlichkeit mit jener Erschütterung, die Walter Benjamin mit dem Aufruf seiner wohl berühmtesten Figur im Sinne hatte, der des Engels der Geschichte, der vom Blick auf die Trümmer der Vergangenheit in die Zukunft getrieben wird. Das schließt zumindest einen Akt der Hoffnung ein. (Wolfgang Müller-Funk, Album, 21.9.2019)