Am 20. September 1519 brach der portugiesische Seefahrer Fernão de Magalhães mit fünf Schiffen auf, um im Auftrag der spanischen Krone einen Westweg zu den Molukken zu finden. Unter der Besatzung befand sich ein Kanonier namens Hannes aus Aachen. Raoul Schrott erkor ihn zum Protagonisten seines Romans Eine Geschichte des Windes oder von dem deutschen Kanonier der erstmals die Welt umrundete und dann ein zweites und ein drittes Mal.

Lust an der barocken Sprache: Raoul Schrott.
Foto: Annette Pohnert

STANDARD: Herr Schrott, in Ihrem Roman "Eine Geschichte des Windes oder von dem deutschen Kanonier der erstmals die Welt umrundete und dann ein zweites und ein drittes Mal" erzählen Sie mit spürbarer Lust an der barocken Sprache die Geschichte von einem Hannes aus Aachen. Was fasziniert Sie an der Barocksprache?

Schrott: Das war die Sprache der damaligen Zeit. Ich gebrauche sie, um einen temporären Blickwinkel zu suggerieren. Diesen Hannes gab es wirklich. Überliefert sind von ihm jedoch nur die Namen seiner Eltern und Einträge der Buchhalter auf den Gehaltslisten der Schiffe. Um ihn in einen Rahmen zu stellen, recherchierte ich die Expeditionsberichte. Aus den Chroniken der drei Weltumsegelungen, an denen er teilnahm, erfuhr ich, was er tat und woran er beteiligt war. Zur Darstellung seines Denkens und Fühlens dienen mir die bildlichen Ausdrücke der barocken Sprache. Sie veranschaulichten einst eine Weltsicht und sind bis heute in Sprichwörtern erhalten. Diese Sprache ist wirklich die gesamte "Orgel" mit allen Pfeifen von den hohen bis zu den tiefen Registern. Sie erlaubt es mir, weit auszuholen. Mit ihrem manchmal verqueren Deutsch besitzt sie eine Fülle an Frechheit und zugleich Gestelztheit. Für eine solche Schelmenfigur wie diesen Hannes kann man sich nichts Besseres wünschen.

STANDARD: Verstehen Sie Ihr Buch als Schelmenroman?

Schrott: Dieser Hannes ist eine Art Simplicius Simplicissimus. Als Landratte kommt er auf ein Schiff und zu Völkern, die kein Europäer je zuvor gesehen hat. Das ist ein typisches Schelmenmotiv. Als Jugendlicher habe ich nichts lieber gelesen als Schelmengeschichten. Lazarillo de Tormes, Gil Blas de Santillane, Alonso de Contreras und Guzmán de Alfarache waren für mich die menschlichsten und poetischsten Figuren. Ich mag keine Heldengeschichten, in denen Magellan mit mutgeschwellter Brust der Welt entgegentritt, um die Erde zu umrunden, während diejenigen, die ein solches Himmelfahrtskommando erst ermöglichen, keine Erwähnung finden.

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Navigation in alle Windrichtungen: ein kolorierter Kupferstich aus dem "Atlas portatilis" von 1724.
Foto: Picturedesk

STANDARD: Wie sind Sie auf diesen Hannes gestoßen?

Schrott: Die ursprüngliche Idee war es, zum Jubiläum von Magellans Weltumsegelung einen Film zu drehen. Ein Filmemacher unterbreitete mir den Vorschlag, Magellans Route abzufahren und den damaligen Beschreibungen heutige Eindrücke entgegenzustellen. Nach langem Hin und Her versetzte er mich jedoch, und aus dem Filmprojekt wurde nichts. Ich hatte allerdings schon zu recherchieren begonnen und festgestellt, dass von den 250 Männern, die im September vor 500 Jahren losgesegelt waren, nach drei Jahren schrecklicher Erlebnisse von Skorbut und Menschenfresserei bis zu Meuterei und untergegangenen Schiffen nur 18 zurückkamen, unter ihnen eben dieser Hannes aus Aachen. Über ihn erfuhr ich, dass er der erste Mensch war, der die Welt zweimal, wenn nicht sogar dreimal umrundete. Ich sammelte Eindrücke in Patagonien, wo die Mannschaft damals überwintert hatte, von der Magellanpassage, auf den Philippinen, wo Magellan umgekommen war, und auf der indonesischen Inselgruppe der Molukken. Während ich versuchte, das alles mit den Augen dieses jungen Mannes aus Aachen zu sehen, der zuvor noch nie auf einem Schiff gewesen war, tauchte in mir die Idee zu dem Roman auf.

STANDARD: Was reizte Sie an diesem Hannes?

Schrott: Ich habe mich gefragt, was diesen Hannes dazu bewog, nur einige Jahre nach der ersten Reise, die drei Jahre gedauert hat und bei der er Schreckliches erlebt hat, bei der zweiten Weltumsegelung anzuheuern. Und nachdem bei dieser von 500 Mann nur sieben zurückgekehrt waren, heuerte er kurz darauf ein drittes Mal an. Dazu bedurfte es doch eines besonderen Naturells oder besonderer Umstände. Mich reizte die Entwicklung eines solchen Charakters, der als junger, unbedarfter, naiver Bursche auf ein Schiff kommt und im wörtlichen Sinne auf diesen Fahrten seine Erfahrungen macht. Wie er sich veränderte und was aus ihm wurde, ist neben der dokumentarischen Recherche der fiktive Anteil an meiner Romanfigur.

STANDARD: Trotz seiner abenteuerlichen Reisen erscheint dieser Hannes eher wie ein Verlorener, der keinen Platz in der Welt findet ...

Schrott: Dieser Hannes lebt in einer Welt, die von Intrigen, Ungerechtigkeiten und ersten kapitalistischen Unternehmungen geprägt ist und in der es weder Gerechtigkeit noch Moral gibt. Alles ist aus den Fugen geraten. Die Menschen suchen nach Wunderzeichen, weil sie den Weltuntergang erwarten. In dieser Welt versucht Hannes, sich einen Platz zu erobern. Die Irrungen und Wirrungen seines Lebens verlaufen unter der Kuratel der Göttin der Gelegenheiten. In barocken Emblemen trägt sie ihre langen Haare vor dem Gesicht, damit man sie nicht sieht, wenn sie sich naht, und nicht zurückhalten kann, wenn sie vorbei ist. Sie ist die Schwester der Fortuna und der Tyche, die den blind waltenden Zufall verkörpert. So geht es mal gut und mal schlecht. Das war damals das bestimmende existenzielle Prinzip. Das Glücksrad des Lebens erschien als ein Schicksalsrad und oft als ein Folterrad.

STANDARD: Die Erdumsegelung Magellans gilt als die erste, die historisch belegt ist. Tatsächlich aber wurde erst im 19. Jahrhundert, nachdem 1800 Antonio Pigafettas Bericht entdeckt worden war, sein Name damit in Verbindung gebracht. War dieser Magellan vor allem ein Mythos des 19. Jahrhunderts?

Schrott: Nein. Der Bericht Pigafettas, der nur einer von einem Dutzend ist, wurde im 19. Jahrhundert veröffentlicht und ging danach in die Literatur ein. Aber das bedeutet nicht, dass Zweifel daran bestehen, dass Magellans Weltumsegelung die erste war. Was im 19. Jahrhundert einsetzte, war eine Instrumentalisierung. Man benützte Magellan als Vorläufer für die eigenen Kolonialisierungsbestrebungen. Die Kämpfe, die ich in meinem Roman schildere, hängen wesentlich mit der Kolonialisierung zusammen, die bereits Ende des 15. Jahrhunderts ihren Anfang nahm.

Raoul Schrott, "Eine Geschichte des Windes". € 26,80 / 324 Seiten. Hanser-Verlag, München 2019
Foto: Hanser-Verlag

STANDARD: Worin bestand der Auftrag dieser ersten Weltumsegelung?

Schrott: Die Motive waren nicht hehre geografische Entdeckerinteressen. Die Aufgabe bestand darin, den schnellstmöglichen Zugang zum ostindischen "Gold", zu Muskatnüssen und Gewürznelken, zu schaffen. Man wollte dem arabischen Fernhandelsweg, über den diese Gewürze bisher nach Europa kamen, das Wasser abgraben und selbst an diesem Handel verdienen. Solche kapitalistischen Phänomene zeigten sich bereits zu Anfang der Globalisierung. Nur ein Jahr nach der Entdeckung Amerikas durch Kolumbus 1492 wurde eine Welt, von der man nicht einmal wusste, wie groß sie ist und ob sie wirklich rund ist, in Besitz genommen und aufgeteilt. Mit dem Papst als Schiedsrichter stritten die beiden "Erznachbarn" Spanien und Portugal darüber, wo die Grenze verläuft. Beide erhoben Anspruch auf die Molukken. Die zweite Weltumsegelung hatte dann das Ziel, eine militärische Macht zu etablieren und eine Kolonie zu errichten, was zu einem siebenjährigen Krieg führte zwischen einer Handvoll Portugiesen auf einer und einer Handvoll Spanier auf einer anderen Molukken-Insel.

STANDARD: Und wie haben die einfachen Menschen im 16. Jahrhundert diese Weltumsegelung aufgenommen? Erfuhren sie überhaupt davon?

Schrott: Sicher. Diese Umsegelung war für alle in Europa damals eine Reise, die man mit der des Noah aus der Bibel verglich. So etwas hatte es zuvor nicht gegeben. Sevilla war neben Lissabon die weltweit bedeutendste Stadt und der größte Handelsmarkt in Europa. Spanien wurde reich durch diese Erkundungen, die Besitzungen in Südamerika und die Gewürzschiffe. Auf der bolivianischen Hochebene des Altiplano in Potosi befindet sich eine riesige Silbermine. Sie wurde in Spanien sprichwörtlich für Reichtum. Noch heute sieht man in Potosi überall den Habsburger-Adler von Kaiser Karl.

STANDARD: "Eine Geschichte des Windes" haben Sie Ihren Roman genannt ...

Schrott: Der Sinn historischer Romane liegt für mich darin, der Gegenwart einen Spiegel vorzuhalten, der Roman sollte sich als Allegorie auf die menschliche Existenz lesen lassen. Ich wollte das Luftgängerische, das Schelmische und das Närrische dieses Hannes zeigen, um eine poetische und philosophische Dimension zu eröffnen. Bei meiner Reise nach Südamerika landete ich auch auf der Osterinsel. Da erfuhr ich zufällig das Ende dieses Hannes, und eine Geschichte des Windes schien mir am besten zu diesem Ende hinzuführen. (Ruth Renée Reif, Album, 22.9.2019)