Soziologe Christian Fleck im Gastkommentar mit einem Plädoyer dafür, eine weiter in die Zukunft gerichtete Perspektive zu wählen. In einem weiteren Gastkommentar widmet sich Philosophin Lisz Hirn dem Spiel der Macht.

Als jemand, der ein bisserl Ahnung davon hat, wie man Stichproben zieht und mit welchen Unsicherheiten daraus abgeleitete Schlüsse rechnen müssen, würde ich nicht einmal den Umfragen trauen, deren einzelne Erhebungsschritte von mir beobachtet werden können. Umfragen vor Wahlen sind keine Prognosen von Wahlergebnissen, sondern Rorschachtests der kollektiven Befindlichkeit, durchgeführt von Mitgliedern der quasselnden Klasse. Angesichts künftig spärlicherer Parteifinanzen wäre eine Rückkehr zum Orakel von Delphi zu empfehlen, da die Gebühren, die Pythia zu entrichten waren, ein Lercherlschas waren, verglichen mit den Honoraren der Demoskopen.

Was sehen Sie?
Cartoon: Michael Murschetz

Die quasselnde Klasse

Ein erfreulicher Nebeneffekt unterbliebener Sonntagsfragen wäre es, dass uns Politikinteressierten auch die Meinungen über die Meinungsbekundungen anderer erspart blieben, sprach das antike Orakel doch nur ein Mal pro Monat. Wir müssten uns nicht mehr anhören, warum die segnenden Handbewegungen von Kandidat A verantwortlich dafür sind, dass seine Partei um x Prozentpunkte vor den anderen liegt; warum ihr Konsum von Salatblättern erklären kann, dass Kandidatin Bs Body-Mass-Index von dem ihrer Wähler so weit abweicht, dass ein Mitläufereffekt deswegen nicht eintreten wird.

Ein nüchterner Blick auf die politische Lage Österreichs im Spätsommer 2019 zeigt uns doch Folgendes: Dank des talentierten Herrn Kurz kann sich seine Partei ziemlich sicher sein, dass sie die Konkurrenten weit genug hinter sich lassen können wird, sodass gegen sie keine Regierung gebildet werden können wird. Nun könnte ich mich lange darüber ergehen, welche Fähigkeiten Sebastian Kurz besitzt und welche Finten er beherrscht und ob das alles nur antrainiert ist oder doch genuine Qualitäten seiner Person sind. Geschenkt: Kurz verfügt in den Augen einer großen Zahl der Wählerschaft über Begabungen, die ihn zu einem charismatischen Herrscher machen.

Vergängliches Charisma

Von Max Weber wissen wir, dass eines der schwerwiegendsten Probleme eines dank göttlicher Gnade Herrschenden darin besteht, dass Charisma vergänglich ist.

Das Ablaufdatum des Charismas von Kurz kann man noch nirgendwo ablesen. Kurz wird Weber nicht gelesen haben – warum sollte er auch? -, doch scheint mir, dass man ihm zumindest zutrauen kann, sich in einem ruhigen Moment – während einer seiner Wanderungen? – Gedanken über seine Zukunft gemacht zu haben. Es spricht nichts dafür, dass er, sich romantischen Fantasien hingebend, sich in jungen Jahren heldenhaft sterben sehen will. Also bleiben ihm, konservativ geschätzt, 30 Berufsjahre, die er auszufüllen hat. Die Karrierestationen "jüngster Bundeskanzler" und "Ex-Kanzler der Zweiten Republik" hat er schon hinter sich, die nächste Kanzlerschaft dauert vielleicht dieses Mal länger als 17 Monate – doch was folgt danach?

Süßeln und Gekreische

Noch keine 40 Jahre alt, mit verblasstem Charisma, bleiben dem talentierten Herrn Kurz dann nur noch Stationen jenseits der Alpenrepublik. Die wird er sich schon heute und morgen nicht verbauen wollen. Doch europäische oder gar globale Optionen stehen einem abgetakelten Vorsteher einer türkis-blauen österreichischen Regierung dann wohl weniger offen als einem juvenilen Elder Statesman einer "ordentlichen Mitte-rechts-Politik".

Angesichts einer künftigen österreichischen Bundesregierung Kurz mit den beiden Vizekanzlern Werner Kogler und Beate Meinl-Reisinger werden dann auch die mahnenden Stimmen der besorgten Fraktion der quasselnden Klasse verstummen und das Süßeln und Gekreische der Norbert Hofers und Herbert Kickls endlich unkommentiert bleiben. Alles gut also, demnächst. (Christian Fleck, 21.9.2019)