Roberto David Rusconis Oper versetzt Dionysos und dessen mythologische Konsorten in die Klapse. Sinnlich und rauschhaft geht anders.

Foto: Netzzeit

Griechische Mythologie – genau: diese extrem verästelte, ewiglange Netflix-Serie von Sigmund Freud (Drehbuch) und Quentin Tarantino (Regie) – geht immer. Spezialkommandos aus Salzburg plünderten etwa diesen Sommer diverse Weingüter in altgriechischer Bestlage und kelterten aus den dort geraubten Trauben den Festspielwein – es wurde ein exzellenter Jahrgang.

Apropos Wein: Die Gruppe Netzzeit startete ihr biennales Festival für Neues Musiktheater mit der österreichischen Erstaufführung einer Oper von Roberto David Rusconi (Musik und Libretto). Das Festival trägt den Namen "Out of Control", die Oper beschäftigt sich mit dem Gott des Weins und der Ekstase. Doch in Dionysos Rising ist dem unehelichen Sohn von Göttervater Zeus nicht nach Feiern zumute: Dionysos hängt an der Nadel und sitzt in der Klapse.

Leidgeprüftes Quartett

Letzteres zusammen mit seiner Mutter Semele, seiner Tochter Telete und seinem Geliebten Ampelos. Ein Arzt (Regisseur Michael Scheidl selbst) diagnostiziert bei Dionysos Drogenmissbrauch und Narzissmus, Semele ist teilverbrannt und traumatisiert, Telete wurde missbraucht, Ampelos sitzt im Rollstuhl und hat eine bipolare Störung.

Das leidgeprüfte Quartett drückt erlittene Traumata in Form von bruchstückhaftem Textmaterial aus: Das muss wohl der Schock sein. Aus diagnostischer Sicht ähnelt die dramaturgische Struktur des Librettos über weite Teile einer Nulllinie (nicht so gut), die Musik tut es dem Libretto gleich (noch schlechter).

Tonfolter

Unter der Leitung von Timothy Redmond spielt das Ensemble Phace in der Halle G des Museumsquartiers im Verborgenen zu Vorbereitetem aus dem Rechner, die Zuhörer werden mit einem speziellen Klangsystem rundumbeschallt. Der Aufwand bringt nicht wirklich etwas, denn Rusconi kreiert nur ewiggleiche Echoräume extremer emotionaler Erlebnisse: Geigen versuchen Erregtheit herbeizutremolieren, Bläser blöken bedrohlich, Chöre singen geisterhaft verfremdet. Darüber spinnen die elektronisch verstärkten Vokalsolisten (stimmstark und souverän: Zachary Wilson, Anna Quadratova, Cho Da Yung, Ray Chenez) endlos lange lyrische Melodiefäden.

Nach einer stundenlangen Tonfolter lässt eine überraschende Ruptur kurzzeitig wieder tiefer atmen: Ampelos’ Tod wird zum Opferfest, sein Blut wird zu Wein, und die Sänger und vier Tänzer ergehen sich in heiterem Formationstanz. Zurück bleibt neben Lähmung, Frust und einem saftigen Musiktheatertrauma die Frage, wie um des Regiehimmels willen just dieses mit den akustischen Begleiterscheinungen einer Geisterbahnfahrt musikalisierte Jammerspiel als ein Plädoyer für ein dionysisches, also: sinnliches Leben empfunden werden könnte – denn als solches hat es Netzzeit-Mastermind Michael Scheidl erklärtermaßen konzipiert. Die Frage blieb unbeantwortet. ( Stefan Ender, 20.9.2019)