Im Gastkommentar widmet sich Sprachphilosoph Paul Sailer-Wlasits den sprachverseuchten Politpralinen des Wahlkampfs. Lesen Sie weitere Gastkommentare von der Philosophin Lisz Hirn und dem Soziologen Christian Fleck.

Cicero war der Erfinder der "Elefantenrunde". In einer Villa in Tusculum im Südosten Roms trafen sich einige rhetorische Schwergewichte der Antike zur Diskussion. "Rom sucht den rhetorischen Superstar" würde das Motto heute lauten. Die Diskutanten entwickelten Forderungskataloge für einen vollkommenen Redner. Dieser Idealtypus sollte mit seinen Gesamtbegabungen nicht nur die Zuneigung der Menschen gewinnen, sondern auch deren Gedanken fesseln, um "sie dorthin zu bringen, wohin man will, und sie abzubringen, wovon man will".

Österreich hat einen neuen Politikertypus kreiert: den Fulltime-Fernsehdiskutanten.
Foto: ORF / Hans Leitner

Kunstgriffe der Überredung

Das Finale des laufenden Wahlkampfs zeigt, wie rücksichtslos politische Inhalte der Herrschaft des rhetorischen Effekts unterworfen werden. Ziel ist nicht die Überzeugung der Menschen, sondern deren Überredung, denn politische Rhetorik privilegiert das Glauben-Erwecken und Für-wahr-Halten. Deshalb wird die Wahrheit, wo immer es opportun ist, umschifft. Politiker jeder Couleur begnügen sich mit rhetorisch erzeugter Illusion von Erkenntnis. Mit illusionärem Wohlgefallen, der zu mehrheitlicher Zustimmung führen soll.

Falls öffentlich praktizierte Inhaltlosigkeit von zu großen Teilen der Bevölkerung akzeptiert wird, anstatt konsequenzlos zu verhallen, dann potenziert sich das Vorkommnis vom Problem zur Gefahr. Das uneigentliche Reden, jener Endpunkt, an dem die Leerformel an die Stelle des Inhalts tritt, stellt ein kaum abzuschätzendes diskursives Risiko dar. Denn das Regime des rhetorischen Effekts bringt, mit Platon gesprochen, nur "Glauben ohne Wissen" hervor.

Umkämpftes Wählerreservoir

Noch bevor das erste Wort gesprochen ist, schränken die Rhetoriktaktiker bereits die Zielgruppe der Rezipienten ein: Nicht die Wissenden, mit Sachkenntnis reichlich Ausgestatteten, sondern die weitgehend Unwissenden, jene, die nur über rudimentäre Kenntnisse verfügen, werden als Zielgruppe privilegiert.

In den Social Media, wo politische Wahrheit und Widerspruchsfreiheit weitgehend beseitigt wurden, ist die rhetorische Niedertracht bereits bis zum Erbrechen gesteigert. Die in Washington begonnene Strategie der "alternativen Fakten" wird ungehemmt, lustvoll und sprachlich gewaltsam durch die Communitys gepeitscht.

Kein insinuierter Rassismus ist zu obszön, um nicht geteilt zu werden, kein Gerücht über die politischen Mitbewerber zu abstrus, um nicht Eingang in einen Kurztext zu finden. Die Wählerinnen und Wähler bespielt man in den sozialen Medien wie eine Zielgruppe "Retardierter". Mit grenzenloser Infantilität, gepaart mit Lügen und unverfrorener politischer Selbstdarstellung. Das wirklich Schockierende ist jedoch, dass dieser kommunikative Vulgäreintopf funktioniert.

Sprachverseuchte Politpralinen

Große Teile des Wahlvolks weisen die sprachverseuchten Politpralinen nicht empört zurück, sondern leiten diese – nach Instant-Feedback lechzend – unkritisch weiter, um sie gleich danach begierig zu verschlingen. Die digitale Vervielfältigung erledigt alles Übrige.

Während sich andere, größere Länder mit vergleichsweise wenigen Fernsehdiskussionsshows begnügen, inszeniert man solche hierzulande in atemloser Frequenz. Mit inhaltsmageren Pointen, die durch ostentatives Wiederholen selten besser werden, scheint Österreich gerade einen neuen Typus des Politikers kreiert zu haben: den politischen Fulltime-Fernsehdiskutanten.

In der kargen verbleibenden Zeit verdingt sich dieser auch noch als Laiendarsteller. In peinlichen Kurzvideos jeweils sich selbst mimend, hart an der geschmacklichen Grenze des Zumutbaren. Differenziertheit war gestern. Es lebe die Verkürzung! Das ist die Politik der Zukunft. Satz für Satz. Bild für Bild.

Kulturelle Wohltat

Im Rückblick wird die Vertrauensregierung wie ein kurzes Durchatmen gewesen sein, eine kulturelle Wohltat für Österreich. Eine gelungene Mischung erfahrener, intellektueller Persönlichkeiten, übervoll mit Sachkenntnissen und über bemerkenswerte Biografien verfügend – nicht über Selbstbiografien. Dieser ausschließlich mit der Verwaltung des Übergangs betrauten Regierung Untätigkeit vorzuwerfen ist absurd. Genauso absurd, als würde man einer Brücke vorwerfen, dass sie nicht selbst über jenen Übergang geht, welchen sie gerade bildet.

Rückkehr der Lehrlinge

Nach den Meistern ihres Fachs werden wieder die "Lehrlinge" und "Gesellen" das Ruder des Staatsschiffs an sich reißen. Falls nach dieser Wahl eine Rückkehr zu den gleichen politischen Konstellationen erfolgen sollte, wäre das Wahlvolk diesmal nicht aus der Verantwortung nehmbar, sondern Erfüllungsgehilfe dessen, was Karl Kraus im Sommer 1934 schrieb: "Es scheint der Menschennatur verhängt zu sein, durch Erfahrung dümmer und erst durch deren Wiederholung klug zu werden."

Wie in einem Basar mit brüllenden, ihre Waren feilbietenden Verkäufern schlägt politische Rhetorik in Wahlkämpfen in schäbige Beredsamkeit um. An deren Endpunkt und negativem Extremwert kann die demagogische Beherrschung der Massen stehen. (Paul Sailer-Wlasits, 22.9.2019)